Eins Der Aufzug blockierte. Wenn man diese altertümliche Kabine Aufzug nennen wollte. Er rüttelte am schrundigen Handgriff, doch die metallene...

Eins Der Aufzug blockierte. Wenn man diese altertümliche Kabine Aufzug nennen wollte. Er rüttelte am schrundigen Handgriff, doch die metallene Schiebetür machte keine Anstalten, sich mit ihrem üblichen Ächzen zu entfalten. Er drückte heftig auf den grünen Signalkopf, mehrmals hintereinander. Hoffnung, dass sich das Ungetüm bewegen würde, hatte er keine. Kein Rucken war zu vernehmen, vermutlich steckte der Aufzug fest, wieder einmal. Tage würde es dauern, bis das gerichtet würde. Er nahm sich vor, heute Abend schriftlich festzuhalten, an wie vielen Tagen im Monat dieses gottverdammte Teil seinen Dienst quittierte und dass das meistens geschah, wenn er mit Badoît-Kästen bepackt war. Er stieß einen Fluch aus, auf Deutsch, seine Möglichkeiten, Unmut in angemessenem französischen Vokabular zu äußern, reichten nicht aus, immer noch nicht. Ängstlich versuchte er die Lautstärke seiner Schimpftirade zu dämpfen, nicht dass sich die Wohnungstür der Concierge öffnete und sie ihn in ein quälend langes Gespräch verwickelte.

Dann zu Fuß, fünf Stockwerke hinauf, in dem kaum beleuchteten Treppenhaus. Besser, als wenn man alle Details der Verschmutzung sofort sähe. Grünliche Auslegeware bedeckte die Stufen, ungezählte Abfallflecken breiteten sich aus. An jeder Treppenbiegung schwappte der Stoff hoch, er verlangsamte seinen Schritt, voller Furcht, er könne sich in der Aufbauschung verheddern und längs gegen das Geländer schlagen, das Gleichgewicht verlieren, hinabstürzen, mit einem Getöse, das die Concierge in Sekundenschnelle aus ihrer Höhle locken würde. Sich vorzustellen, diese mit einer beigen Schürze, wie sie seine Großmutter früher getragen hatte, bekleidete und in einem undefinierbaren portugiesisch-französischen Idiom sprechende Frau würde sich über ihn beugen, sein Haar berühren und womöglich seine Wangen aufmunternd tätscheln, ließ ihn beim Aufstieg besonders achtsam sein.

In der dritten Etage hielt er inne, stützte sich am Handlauf ab, atmete stoßweise. Wie schnell man Kondition einbüßte, wenn man keinen Sport betrieb. Er gehörte zu den mittelalten Männern, die stolz an jene Zeiten dachten, da sie regelmäßig zum Joggen, auf Trimm-dich-Pfaden, wie man das früher genannt hatte, aufgebrochen waren oder in Freizeitmannschaften im Park gegen Fußbälle getreten hatten. Auch dann noch, als die Knochen morscher wurden und man am nächsten Morgen Muskeln spürte, von deren Existenz nie die Rede gewesen war.

Immerhin verzichtete er seit Längerem darauf, mit guten Vorsätzen ins Jahr zu gehen. Er wollte keine Sportart betreiben, ein überteuertes Fitnessstudio-Abo kaufen oder mit unförmig aussehenden Alterskumpanen in einem nach Chlor stinkenden Schwimmbad Alibirunden drehen. Dann lieber ein paar Metrostationen auslassen, zu Fuß durch die Stadt ziehen und die Höhenunterschiede des Montmartre-Hügels unerschrocken angehen. Auf seinen Aufzug wollte er dennoch nicht verzichten; nach der Arbeit gezwungen zu sein, auf diese Annehmlichkeit - wozu zahlte er Nebenkosten? - zu verzichten, erschien ihm als persönliche Beleidigung, als Angriff auf sein Wohlbefinden. Er würde mindestens eine halbe Stunde brauchen, bis sein Ärger darüber verraucht war und er von der Idee, umgehend der Hausverwaltung zu schreiben, Abstand nahm. Wie schnell Stimmungen umschlugen, wohin man blickte, lauerten Erniedrigungen und Demütigungen, den ganzen Tag über.

Gleich hatte er es geschafft, noch ein Treppenstück. Komisch, dass einem fast nie Menschen begegneten, dass nie Mitbewohner aus ihren Appartements traten. Neulich war ihm abends eine ältere Frau, Schneiderin im Ruhestand, hieß es, zwischen dem dritten und vierten Stockwerk über den Weg gelaufen, im Halbdunkel hätte er sie beinahe übersehen und umgerissen. Sie hatte einen spitzen Schrei getan, sein "Bonsoir, Madame" trug zur Beruhigung bei, verhinderte aber nicht, dass sich ihre Mäntel berührten, er sich an die Wand drücken musste, um nicht noch näher mit ihr in Kontakt zu kommen.

Wer nur war auf die Idee gekommen, Türschlösser einzubauen, deren Riegel in unterschiedliche Richtungen wiesen? Wochen hatte er nach seinem Einzug darauf verwandt, sich die drei Schlüsseltypen zu merken und sie in die passenden Schlösser zu schieben. Diese Alltagsmühsal strengte ihn an, doch wenn er sich zusammennahm und sich mit Eselsbrücken über Wasser hielt, kam er zurecht, langsamer vielleicht als andere, aber immerhin. Der Schlüssel mit der eingeprägten Zahlenfolge gehörte in die Mitte, der mit dem rissigen Bart nach oben und der schlanke mit dem Namenskürzel des Herstellers nach unten.

Als allein lebender Mann, zumal in einem fremden Land, kam man leicht unter die Räder. Die paar Leute, die er in den letzten anderthalb Jahren in Paris kennengelernt hatte, würden ihm nicht sofort zu Hilfe eilen. Man sah sich ab und zu zum Essen, unternahm gemeinsam Ausflüge, aber Freunde hätte er sie nicht genannt, ebenso wenig wie die Kollegen aus der Firma, fast alles Franzosen, von denen die meisten in der Banlieue wohnten, selten in die Stadt kamen. Er lebte auf Zeit hier, obwohl er nicht wusste, was dieser Ausdruck meinte. Hatte er jemals anders gewohnt, dachte er, als er die Tür zu seinem Appartement aufstemmte.

Zwei Allmählich war es Zeit, dass der Türcode geändert würde. Obwohl das bedeutete, sich einen neuen Zettel zu schreiben, ihn im Geldbeutel zu verwahren, nicht zu verschlampen oder zu verlieren. Bei den vielen Rechnungen und Coupons, die sie ansammelte, war es kein Wunder, dass sie ständig auf der Suche war, wonach auch immer. Die Chaosqueen, so hatte ein Schulfreund sie bezeichnet, jahrelang hatte er versucht ihr beizubringen, mit welchem Ordnungssystem sie ihr Leben besser in den Griff bekäme. Vergebliche Liebesmüh', sie setzte darauf, dass sich die Dinge irgendwann wieder einfänden, zumal in ihrem überschaubarem Appartement, dessen Schlupfwinkel sie alle kannte.

Sollte sie noch einmal hinüber zu Ed gehen, Quark kaufen und ein bisschen Käse fürs Frühstück? Sie blickte hinüber zu dem wenig einladenden Supermarkt, dessen Neonschiene über dem Eingang bedrohlich klapperte. Ja, praktisch war es, einen solchen Laden auf der anderen Straßenseite zu haben, doch jedes Mal, wenn sie dort einkaufte, schämte sie sich. Zum Früchtegeschäft oder zum Metzger in der Rue Caulaincourt wären es nur ein paar Schritte gewesen, aber nach acht Stunden Steherei in der Buchhandlung schwanden ihr zum Feierabend die Kräfte, und so kam Ed zu unverdientem Umsatz. Manchmal zumindest, heute aber beschloss sie, gleich ins Haus zu gehen, irgendetwas Essbares würde sich im Kühlschrank schon finden. Eine indische Gemüsepfanne müsste im Tiefkühlfach lagern. Allein zu essen war ein mittelprächtiges Vergnügen.

Sie öffnete ihren Briefkasten, gleich zwei EDF-Rechnungen, der Prospekt eines Installateurs, der darauf spekulierte, dass in einem alten Pariser Haus jede dritte Woche ein Schaden zu beheben war, und ein Irrläuferbrief - an Herrn Mark Baumhauer stand da, in verschlungener Handschrift und eine Absenderangabe mit abgekürztem Namen. Dieser Baumhauer war ihr Wohnungsnachbar, ein Deutscher, den sie kaum einmal zu Gesicht bekam. Vielleicht, mutmaßte sie, schlief der nächtelang woanders, so still war es meist nebenan, nicht einmal der Fernseher oder die Toilettenspülung meldeten sich. Sie zögerte, erinnerte sich daran, wie sie als Kind heimlich Briefe über Wasserdampf geöffnet und den für andere Leute bestimmten Inhalt gierig gelesen hatte. Das Gefühl, Unrechtes zu tun, die Angst, entdeckt zu werden, die Lust, fremden Geheimnissen auf die Spur zu kommen ... obwohl in den Briefen damals oft nur von der Einschulung des kleinen Thomas oder vom Urlaub in der Provence und den herrlichen Lavendelfeldern die Rede gewesen war. Einen Moment lang überlegte sie, den Brief an sich zu nehmen, herauszubekommen, was es mit Monsieur Baumhauer auf sich habe. Sie lachte über sich selbst, fühlte sich ertappt, obwohl aus der Wohnung der Concierge kein Laut, nicht einmal Töpfeklappern zu vernehmen war, und steckte den fehlgeleiteten Brief dorthin, wo er hingehörte.

Mit federndem Schritt ging sie auf die Treppe zu - montags, mittwochs und freitags nahm sie nie den Aufzug, Training muss sein -, machte sich daran, zwei Stufen auf einmal zu nehmen, und trällerte dabei ein Lied von Charles Aznavour. Il faut savoir cacher ses larmes, quand le meilleur s'est retire. Wer außer ihr interessierte sich für diese alten Sänger, einer nach dem anderen von denen starb, kaum einer trat noch auf, mit brüchiger Stimme vor einem faltig gewordenen Publikum die ewiggleichen Chansons zu singen rührte vielleicht ein paar angegraute Fans. Vor allem aber war es peinlich. Als Buchhändlerin, dachte sie, hatte man es da leichter. Kunden gegenüber ein Loblied auf Stendhals "Rot und Schwarz" oder Colettes "Erwachende Herzen" zu singen würde sie mit siebzig noch schaffen. Sie sang weiter, nahm sich vor, nach ihrem vierzigsten Geburtstag die Treppe auch dienstags, donnerstags, samstags und sonntags zu nehmen. Zu einer Senkung der Nebenkosten - missbilligend sah sie auf den Umschlag mit der Gasrechnung - würde das nicht führen. Sie entriegelte ihre Tür, keine einfache Aufgabe, denn vor drei Jahren hatte sie einen Fachmann beauftragt, ihre Wohnung mit Quer- und Längsriegeln zu sichern. Sie lebte seit Langem allein, aber noch immer quälte sie vor dem Zubettgehen die Vorstellung, ein Einbrecher habe sich ausgerechnet ihre vier Wände als lukratives Ziel ausgesucht. Auf dem Nachttischchen lag ein Küchenmesser bereit, ein solides Teil mit schwarzem Kunststoffgriff, das sie normalerweise dazu benutzte, Braten zu tranchieren oder den Fettrand der Entrecotes einzuschneiden. Dass sie dieses Mordinstrument einem Eindringling kurzentschlossen in die Rippen stoßen würde, kam gar nicht infrage. Vermutlich hätte sie sich selbst dabei verletzt. Aber der Anblick des matt schimmernden Metalls beruhigte sie, bevor sie die Messingschnur an ihrer Bettlampe zog und darauf hoffte, dass die Müllabfuhr am nächsten Morgen nicht zu früh die Rue Francœur hinunterrumpeln würde.


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