Dierk Strothmann über Fingerhüte und andere Schnäpse

Ein ganzes Volk weinte vor Freude. "Der Alte" hatte es geschafft, dass rund 30 000 deutsche Soldaten und Zivilinternierte die berüchtigten Lager in der Sowjetunion verlassen durften und endlich heimkehrten - nach mehr als zehn Jahren der Entbehrung und in dem Wissen, dass etwa 1,2 Millionen Deutsche in russischer Gefangenschaft umgekommen waren. Am 11. Oktober 1955 erreichten die ersten 50 Hamburger den Hauptbahnhof, sehnsüchtig erwartet von Frauen, Müttern, Kindern, Freundinnen.

Möglich war dies durch ein politisches Wunder. Als Kanzler Adenauer (CDU), damals 79 Jahre alt, am 8. September 1955 in die Sowjetunion reiste, um diplomatische Beziehungen aufzubauen und, nachdem sich der Kreml zunächst geweigert hatte, über das Schicksal der letzten deutschen Kriegsgefangenen zu verhandeln, da war dies eigentlich eine "Mission Impossible".

Laut war der Eiserne Vorhang in Deutschland heruntergerasselt. Die Bundesrepublik war im Mai 1955 in die Nato aufgenommen worden, was die Sowjets nur wenige Tage später mit Gründung des Warschauer Pakts unter Einbeziehung der DDR beantworteten - der Kalte Krieg, in dem sich die beiden Militärbündnisse gegenüberstanden, sollte Jahrzehnte dauern.

Schon der Beginn der Verhandlungen war schwierig. Die Sowjets wollten erst diplomatische Beziehungen und dann über alles andere reden, die Deutschen bestanden auf die Zusage die Gefangenen freizulassen, erst dann sei der offizielle Austausch von Botschaftern ein Thema. Die Sowjets bezeichneten die inhaftierten Deutschen nicht als Kriegsgefangene, sondern als Kriegsverbrecher, die die Bundesrepublik nichts angingen.

Eine weitgehend unterschätzte, aber wichtige Rolle spielte in dem Moskauer Drama der SPD-Parlamentarier Carlo Schmid, der als Vertreter des Bundestages teilnahm. Schmid kam bei den Russen gut an, weil er sich offenbar gut in die "russische Seele" eindenken konnte. Als beispielsweise der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Bulganin bei einem Essen sein Glas erhob, um auf die Gesundheit des Bundeskanzlers zu trinken, stand Schmid auf und sagte, er halte es für eine Geschichtslüge, dass Russen trinkfest seien. Denn wäre dies anders, würden sie nicht aus Fingerhüten auf die Gesundheit ihrer Gäste trinken. Prompt erhielt er ein größeres Glas und leerte es.

Als Adenauer dann auf die Gesundheit Bulganins einen Trinkspruch ausbrachte, leerte Schmid sein großes Wodkaglas wieder, was den Kanzler beunruhigte. "Herr Schmid, ich verbiete Ihnen das!", sagte er, "Sie kriegen einen Herzschlag!" Schmid antwortete: "Herr Bundeskanzler, Sie können mir gar nichts verbieten, und mein Herz ist recht stark."

Die Herzen der Russen hatte Schmid im Flug erobert. Nach weiteren Gläsern Wodka kam Nikita Chruschtschow um den Tisch herum, prüfte Schmids Armmuskeln und dieser die des Parteichefs und dann ging es ans Armdrücken. Schmid gewann, Chruschtschow umarmte ihn und sagte "Gospodin Welikaja Germanija" (Herr Großdeutschland). Zwischen beiden entwickelte sich in der Folgezeit ein gutes Verhältnis.

Ende der 50er-Jahre sprach Schmid Chruschtschow darauf an, dass er während der Verhandlungen in einem zwar beeindruckend schönen Palais habe wohnen dürfen, dass aber die Wasserhähne getropft hätten. Ja, so sei das nun einmal, antwortete Chruschtschow, es sei einfacher, einen Sputnik zu erfinden als nichttropfende Wasserhähne herzustellen; für Sputniks brauche man nur einige Genies, für Wasserhähne aber einige Generationen geschulter Handwerker. Aber das ist eine andere Geschichte ...