Eigentlich war es gar nicht seine Kneipe. Ein “Bistrorant“ halt: keine Atmosphäre, kein interessantes Stammpublikum, keine Chance auf Verbündete.

Eigentlich war es gar nicht seine Kneipe. Ein "Bistrorant" halt: keine Atmosphäre, kein interessantes Stammpublikum, keine Chance auf Verbündete. Hier überkam einen nicht das Gefühl, in eine neue und fremde Welt einzutauchen, für das er das Leben am Tresen gewählt hatte. Und das in der Weltstadt Hamburg! Aber: Niemand kannte ihn im "Buntspecht". Niemand sprach ihn an, wenn er traurig und zerknautscht dreinblickte, das Personal ließ ihn in Ruhe.

Das Personal: Den jungen Mann, der hinter dem Tresen mit Flaschen und Zapfhähnen hantierte, hatte Philipp gestern schon einmal gesehen und erlebt. Er hatte neben ihm gesessen, ein Personalessen hinuntergeschlungen und ziemlich viel dummes Zeug im Gespräch mit seinen Kollegen von sich gegeben. 'Ziemlicher Schwachkopf!', hatte er gedacht, und dieser Schwachkopf servierte ihm nun sein Bier mit einem gewinnenden Lächeln und einem "Sehr gerne". Und fragte beim dritten Bier: "Du bist öfter hier, oder?" Das war schnell gegangen. Dabei war er doch gerade erst drei-, viermal hier gewesen. Genau der richtige Zeitpunkt, das Abenteuer "Buntspecht" sein zu lassen.

Am nächsten Nachmittag begrüßte ihn der Schwachkopf, der Mikey hieß oder sich zumindest so nannte, mit Handschlag. "Grüß dich, Philipp!" Während er sich noch wunderte, woher Mikey seinen Namen wusste, hatte dieser ihm bereits sein großes Pils hingestellt, noch bevor er es hatte bestellen können. "Alles gut, Philipp?" Uff. Er hasste diese Frage! In diesem Moment allerdings erwischte er sich dabei, Gefallen daran zu finden, dass irgendein Fremder sich für sein Wohlergehen interessierte. Oder wenigstens so tat. Er hoffte jedenfalls, dass Mikey anderen Gästen gegenüber nicht so über ihn sprach wie jetzt über den älteren Herrn mit dem Toupet unter der Berliner-Weiße-Werbetafel. "Der Alte da hinten ist auch ein Idiot. Kommt jeden Tag. Jeden Tag! Trinkt Scharlachberg." Und über die Kollegin im Service lästerte Mikey: "Mein Gott, ist das eine lahme Schnecke, die Dana."

Es waren eigentlich nur Nichtigkeiten, die sie austauschten, aber für Philipp war es an diesem Tag genau das Richtige. Er konnte sogar über die eine oder andere Bemerkung des Schwachkopfs lachen. Fast kam es zur Verbrüderung, als Mikey ihn über den Tresen hinweg anstupste und nach draußen zeigte. "Oha, das blonde Tier da vor'm Fenster - was für'n heißer Feger. Stehst du doch auch drauf, gell?" Als Philipp seine drei Biere bezahlen wollte, machte Mikey eine wegwerfende Handbewegung. "Gib mir drei Euro, ich hab' nur ein Pils gebongt. Ne, Trinkgeld nehme ich von dir nicht!"

Am übernächsten Tag gab es, als er gehen wollte, noch einen "schnellen Schuss" ins Glas, und Philipp merkte, wie das zusätzliche halbe Bier ihn ein wenig übermütig stimmte. Er hatte nicht über den gestrigen Tresenmann-Darsteller reden wollen, aber nun tat er es doch. Ein eitler Gockel wäre der Konny - mit Muschelkette und Ellbogen-Tätowierung! Wie ein Sylter Surflehrer würde er hinter der Zapfanlage herumtänzeln. Kam sich vor wie ein Großgastronom! Dabei war es lächerlich, mit 35 immer noch als Aushilfe zu kellnern. Sprechen tat er allerdings noch wie ein 17-Jähriger. Unfreundlich sei er auch, so ganz anders als Mikey. Unterhalten konnte man sich mit dem gar nicht. Mikey lachte lauthals. "Ja, das ist der Konny. Den kann hier keiner mehr ab. Schon gar nicht die Mädels, die im Service mit ihm arbeiten. Noch'n Schuss?"

Eigentlich machte Philipp nichts anderes mehr, als in den "Buntspecht" zu gehen. Als er Mikey einmal verpasste und erst zum Schichtwechsel erschien, hörte er mit einem Ohr mit, wie zwei der Kellnerinnen über ihn lästerten. "Der ist einfach los - ohne seine Abrechnung zu machen." "Was, der Mikey? Das geht ja gar nicht!" Beide regten sich fürchterlich auf. Philipp empfand es als seine Pflicht, dem Opfer am nächsten Tag Bericht darüber zu erstatten. "Geht gar nicht!", lachten sie beide zusammen, und Mikey gab ihm noch einen Schuss Bier. "Der Konny sagt sicher auch über mich: 'Geht gar nicht!'" Mikey schob einen Jägermeister nach. "Psst. Nicht verraten."

Und dann passierte es, völlig unvorhergesehen. Konny arbeitete anstelle von Mikey und schimpfte hinter dem Tresen wie ein Rohrspatz. "Vier fast leere Maracujasaftflaschen, wer macht denn so was?" Philipp biss sich noch kurz auf die Zunge, dann rutschte es aber aus ihm heraus. Er wusste, dass sein Freund mit den Saftflaschen auf Kriegsfuß stand. "Das kann nur Mikey gewesen sein", gab er preis und erschrak. Das hatte er nicht gewollt - Mikey anschwärzen! Nun war es aber nicht mehr rückgängig zu machen und Mikey würde sowieso nicht glauben, dass er so etwas tun könnte. Konny stellte ihm einen Jägermeister hin. "Psst. Nicht verraten."

Irgendwie fühlte sich das Ganze aber gar nicht so schlecht an. Er war jetzt nicht mehr irgendein Tresengast im "Buntspecht" - nein, er besaß hier ein kleines bisschen Macht. Philipp begann, sich Auffälligkeiten der Mitarbeiter zu notieren. "Was machst'n da?", fragte Mikey, dem es als erstem auffiel. "Ich schreib alles mit, damit ich euch gegeneinander ausspielen kann." Der Tresen lachte schallend. "So ein Quatsch, haha!" Mittlerweile konnte Philipp am Blick des Chefs erkennen, wann er Einnahmen in seinem Rucksack hatte und wann nicht. Er überwachte die Toilettenbenutzung der Nichtgäste (50 Cent sollten an "Ärzte ohne Grenzen" gehen, aber natürlich wusste er längst, wer sich von den Angestellten diese Einnahmen einsteckte) - er kannte alle Punkte der Tresen-"Check-Liste", die man intern "Schreck-Liste" nannte, auswendig. Mikey und er lachten viel zusammen. Philipp wollte aber nicht immer nur lachen. Als im "Buntspecht" eingebrochen wurde, verdächtigte er im Beisein von Mikey Konny und während Konnys Schicht Mikey.

Philipps Vorlieben für weibliche Bedienungen wechselten mit der jeweiligen Schicht. Eigentlich mochte er auch Dana. Und die magersüchtige Maxi. Das "Klappergestell" (O-Ton Mikey) mit dem Nasenring hatte ihm mittlerweile ihre Liebes- und Familienprobleme offenbart und ihn um Rat ersucht. Er hatte die Narben auf ihren Armen entdeckt, hatte gewusst, was mit ihr los ist, und für zwei Stunden alle drei, vier Tage waren Maxi und er Freunde. Philipp wusste auch Hilfe bei Ausschlag, Durchfall und Ohrensausen. Maxi konnte Mikey nicht ausstehen. Philipp gab ihr meistens Recht, wenn sie sich über ihn ausließ. Sie schob ihm dann einen Jägermeister rüber. "Psst. Nicht verraten. Weißt du eigentlich, welches Dressing der Stammgast an Tisch 12 auf seinen Chefsalat nimmt?" American, war doch klar. Den Kaffee mit Milch, aber ohne Zucker. "Stell' doch mal die Uhr vor. Wenn das einer kann, bist du das", sagte Maxi. "Bleibt die Sonne eigentlich? Müssen wir draußen eindecken?" Mit Anna, einer feurigen Rothaarigen mit Sommersprossen, die er am Tresen eingewiesen hatte, ging Philipp am ersten Abend ins Kino.

"Guck nicht so zerknautscht", sagte Dana. Er brachte sie nach Hause, nachdem sie ihr Trinkgeld, das sie nicht in den Personaltopf geworfen hatte, verprasst hatten, und blieb bis zu seiner üblichen "Buntspecht"-Zeit. Sie war gar nicht so eine lahme Schnecke. Im "Buntspecht" hatte Anna Schicht, und der Zickenkrieg entfachte. Glücklicherweise bekam Philipp die Dienstpläne vorab zugefaxt, sodass er wusste, wann er auftauchen konnte und wann nicht. Von wem eigentlich? Er hatte keine Ahnung.

Aber eigentlich wollte Philipp Ann-Kristin, die nur genervt mit den Augen gerollt hatte und sich lieber die Finger blutig polierte, als er versucht hatte, sie anzulächeln. Es war ein harter Kampf um sie, der sich über Wochen hinzog. Schläferin! Daraufhin kündigte Dana und nahm eine Überdosis Schlaftabletten.

"Ich muss dich sprechen mal. Dringend!", sagte der Chef eines Tages. Er sprach sehr gebrochen Deutsch, denn nur so konnte man es weit bringen. 'Auweia', dachte Philipp. Jetzt kommt's: "Du bringst hier zu viel Unruhe unter der Personal. Komm einfach nicht mehr, o.k.?" Oder in der Chefsprache: "Das nervt mir!" Doch stattdessen holte der Chef Baupläne aus dem Rucksack. "Kennst du die 'Holstenstübchen'? Die steht zur Verkauf. Ich würde da gerne eine Burger-Restaurant draus machen. Was meinst du dazu?" Danach besprachen sie die neue Alarmanlage und die Einführung von Überwachungskameras im "Buntspecht". Mikey lachte nicht mehr, wenn Philipp "Ich geh' dann mal hoch ins Büro" sagte. Offiziell war er immer noch Gast. Der Chef hatte vergessen, ihn einzustellen. Aber das machte nichts. Jeder steckte ihm sowieso Geld zu. Oder größere Geschenke. Zahlen tat er längst nicht mehr.

Die meisten Zuwendungen waren in letzter Zeit von Konny gekommen. So wurde er schon bald zum neuen Geschäftsführer berufen. Er lud Philipp zu einem fünfgängigen Essen ein und bezahlte auch den Puffbesuch danach. Dann flogen sie zusammen nach Gran Canaria, um sich ein neues Hotelanlagenprojekt für den Chef anzuschauen. Auf Anraten Philipps wurde auch eine Hamburger Privatbrauerei übernommen. Schläger der Russenmafia begannen, ihm aufzulauern, nachdem er mit Konnys Freundin geschlafen hatte. Philipp brauchte fortan Polizeischutz.

Eigentlich war das "Buntspecht" gar nicht seine Kneipe gewesen. Eigentlich hatte Mikey immer ziemlich viel dummes Zeug von sich gegeben. Philipp beschloss, die Stadt zu wechseln. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase in Hannover ging er in die "Bestech-Bar", einen wunderbaren Laden: Atmosphäre, ein interessantes Stammpublikum, Verbündete links und rechts. "Du kommst aus'm Norden, oder?", fragte ihn der Wirt beim dritten Bier. "Nächste Woche übernimmt diesen Laden ein Tresenmann aus Hamburg! Vielleicht kennst du ihn?!"


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