Die Marktfrau packt fünf Birnen in eine braune Papiertüte, und wir warten vor dem Stand, der uns mit seinem grünem Plastikdach vor dem Wetter schützt. Es regnet, es geht ein unangenehm kalter Wind. Die Papiertüte raschelt beim Aufnehmen der Birnen, erst leise, dann, beim Verschließen, sehr laut.

Darf’s noch was sein?, fragt die Marktfrau und greift mit beiden Händen in eine Apfelkiste: Riechen Se mal! So müssen Äpfel riechen! Das ist Bio!

Wir brauchen noch Sellerie, sage ich und schaue zu Jürgen hinüber. Er scheint an etwas anderes zu denken, an etwas, das nichts mit dem Markt und nichts mit mir zu tun hat. Die Marktfrau strahlt übers ganze Gesicht. Sellerie ist gut für die Männer!, ruft sie und versucht mit dem linken Auge ein Zwinkern, das misslingt; es bleibt stehen in einem merkwürdigen Zucken ihres Lides, als hätte sie etwas im Auge. Ich betrachte sie genauer, sie ist nicht dick, aber auch nicht dünn, sie hat graue Haare, die nicht fettig sind, aber spröde, so wie alles an ihr spröde ist, ihre der Witterung ausgesetzte Haut, die von der Kälte stark geröteten Wangen, ihre sparsamen und effizienten Bewegungen. Unter ihren Fingernägeln sehe ich Schmutz, als sie den Sellerie aus einem der Körbe nimmt, und ich stelle mir vor, wie sie ihren Mann berührt, mit diesen Fingern, mit diesen Händen, mit diesem Körper.

Wir bezahlen Karotten, Paprika, Tomaten, Birnen und Sellerie. Mehrere braune Papiertüten gehen in unseren Besitz über. Die Marktfrau scheint zufrieden mit dem Geschäft. Über ihren Fingerknöcheln spannt sich die Haut, als sie die klammen Hände aneinander reibt, verdrängtes Blut, gelbfleckige Hügellandschaften. Tschüss!, ruft sie, an ihren Nasenlöchern glänzt es feucht, sie wischt mit dem Handrücken darüber.

Im Fortgehen lese ich heimlich ein sprödes graues Haar von einer der Papiertüten, wickle es in ein Taschentuch und lasse es in meiner Jacke verschwinden. Jürgen bemerkt nichts von alledem. Er durchkreuzt mit seinen Blicken den Einkaufszettel. In den Schreibwarenladen, sagt er. Wir hatten keinen Streit, aber etwas zwischen uns hat sich verändert. Oder war niemals so, wie es hätte sein sollen. Jürgen arbeitet in einer Bank, dort trägt man graue Anzüge und überzieht niemals die Mittagspause. Mein Beruf ist anders. Ich bin Malerin, doch davon kann man kaum leben. Jürgen hat irgendwann akzeptiert, dass ich immer wieder Aushilfsjobs annehme, um über die Runden zu kommen. Anfangs fand er es sogar ganz süß, so wie ich es süß fand, dass er so ernsthaft und vorausplanend war. Etwas später hat er dann versucht, mich zu einem, wie er es nannte, anständigen Job zu überreden. Ihm zuliebe habe ich mich um einen solchen bemüht. Aber wir haben schnell gemerkt, dass eine, die nichts anderes gelernt hat als zu malen, keinen anständigen Job bekommt, wenn sich auf den anständigen Job noch zwei Dutzend andere Leute - mit einer zumeist anständigen Ausbildung - bewerben. Schließlich fand Jürgen sich mit der Situation ab. Die zukünftige Mutter seiner Kinder müsse ohnehin nicht mehr arbeiten, wenn er erst die Beförderung in der Tasche hätte, sagte er. Es war ein Heiratsantrag, aber das habe ich erst Tage später verstanden, als Jürgen nach meiner Antwort gefragt hat. Klar, später mal, habe ich gesagt, und diese Antwort scheint ihm genügt zu haben. Seither nimmt er es hin, dass ich gelegentlich kellnern gehe oder Briefe austrage. Dieses Mal habe ich jedoch beim besten Willen keinen solchen Job finden können. Schließlich habe ich dann doch noch etwas gefunden, und genau das ist Jürgens Problem: Seit zwei Wochen bin ich Klofrau in einem Kaufhaus. Mir ist es recht, denn die Arbeit ist nicht halb so angstrengend wie das Kellnern, und ich kann zwischendurch an dem kleinen Tisch vor den Toiletten immer mal wieder ein paar Skizzen machen. Die Türen zu den beiden Toilettenvorräumen mit den Waschbecken und den darüber hängenden Spiegeln stehen immer offen. Ich habe von meinem Tisch aus einen guten Blick dorthin. Die Menschen kämmen ihre Haare oder zwingen sie mit Haarspray in die gewünschte Form. Manche verzichten darauf, sich die Hände zu waschen, nachdem sie aus dem hinteren Raum mit den Toilettenkabinen kommen.

Im Schreibwarenladen kaufe ich einen neuen Block für meine Skizzen. Ich bin so produktiv wie nie zuvor, seit ich die Leute an diesem Ort beobachte, nach dem Gang zur Toilette und vor der Rückkehr ins hektische Kaufhausleben, in diesem Zwischenraum, wo sie unglaublich viel über sich verraten. Jürgen trägt unsere Einkaufstüten zum Auto. Vor der Treppe, die hinunter zur Tiefgarage führt, verabschieden wir uns. Meine Schicht fängt in zwanzig Minuten an. An meinem ersten Tag ist Jürgen mitgekommen, ich muss mir das anschauen, hat er gesagt, und ich habe geantwortet: Hast du noch nie ein Kaufhausklo gesehen? Und er hat es sich angeschaut. Und geseufzt. Auch die Nase gerümpft, als er dachte, ich würde es nicht bemerken. Dann ist er gegangen, bevor ich mit der Arbeit angefangen habe. Ich kann das nicht mitansehen, hat er gesagt.

Im Vorraum der Damentoilette riecht es latent nach Fäkalien und Raumduft. Es riecht hier immer so. Selbst wenn alles sauber gewischt ist, dringt der faulige Geruch noch durch, der aus dem Wasser in den Klosetts aufsteigt. Der Raumduft, der sich bei jedem Öffnen einer Kabinentür mittels Sprühvorrichtung in der Luft verteilt, hat den Anschein einer halbherzigen Entschuldigung. Ich ziehe den weißen Kittel über, trage mein Namenszeichen und die Uhrzeit in die Liste ein, die seitlich über den Waschbecken hängt, wische danach mit dem Lappen über die Klobrillen. Eine Frau schleicht an mir vorbei in eine der Kabinen, als würde sie darin etwas Verbotenes tun wollen. An einem der Waschbecken hängt ein langes dunkelbraunes Haar. Ich wische den mit eingetrockneten Kalkflecken besetzten Rand des Beckens ab und spüle das Haar in den Abfluss.

Ich habe Jürgen nie erzählt, dass ich eine Sammlerin bin. Vielleicht hätte ich es tun sollen, aber ich habe den Moment mutwillig verpasst, weil ich dachte, er würde es nicht verstehen. Inzwischen bin ich mehr denn je davon überzeugt. Ich sammle graue, weiße, brünette, blonde, schwarze und rote Haare. Gefärbte und getönte Haare. Glatte und gekräuselte. Am wertvollsten sind die, an denen noch die Wurzel mit dran ist. Ich archiviere die Haare in Streichholzschachteln, die ich mit Datum und Ort des Fundes sowie möglichst vielen Angaben zur dazugehörigen Person beschrifte. Niemals sammle ich gesichtslose Haare, sie müssen schon eine Geschichte haben, einen Hintergrund. Nur mit diesem Hintergrund kann ich entscheiden, wann ich später Verwendung für sie habe. Jürgen hat nie etwas bemerkt, obwohl wir seit einem halben Jahr zusammen wohnen und meine Sammlung bereits mehrere Schuhkartons unter dem Bett ausfüllt. Vor zwei Wochen habe ich damit angefangen, neue Streichholzschachteln im hinteren Bereich der Küchenschränke zu verstauen. So langsam gibt es ein Platzproblem, aber Jürgen ist weiterhin ahnungslos.

Die Frau in der Kabine drückt auf die Spülung. Ich höre, dass sie Strumpfhosen trägt, die sie jetzt an den Beinen Stück für Stück nach oben zieht, vorsichtig, um sich keine Laufmasche einzuhandeln. Kurz darauf öffnet sich die Tür, ein knackendes Geräusch vor dem obligatorischen Pfffft des Raumduft-Versprühers, und sie lächelt verlegen, als sie an mir vorbei zu einem der Waschbecken geht. Sie zieht vor dem Spiegel ihren Lippenstift nach, ein dezenter Rose-Ton, eher unauffällig als elegant. Ihre Haare kämmt sie nicht, und ich bin ein bisschen enttäuscht; ein Haar von ihr hätte aufgrund ihres repräsentativen Charaktertyps ein sehr gutes Material abgegeben. Draußen klappert es, als sie ein Geldstück auf das weiße Tellerchen legt, obwohl sie unbeobachtet ist und sich ohne Probleme nichtzahlend aus dem Staub machen könnte. Sie ist der schuldbewusste Typ, ich habe das schon bei ihrem verstohlenen Reinschleichen bemerkt.

Um die Mittagszeit steigt die Zahl der Kunden, ich muss häufiger durchwischen. Die älteren Männer kämmen sich ihre Haare mehr oder weniger gekonnt über die lichter werdenden Stellen auf ihren Köpfen, doch heute wird ihnen das nichts nützen, der böige Wind wird die fragilen Kunstwerke sofort wieder zerstören. Ein Mädchen steht eine halbe Ewigkeit neben dem Handtuchspender; es hat sich erst vor kurzem ein Bauchnabelpiercing stechen lassen, die Wunde hat sich entzündet. Das Mädchen pult mit dem Finger darin herum, was es damit bezweckt, erschließt sich mir nicht. Ich skizziere die nach vorn gebeugte Haltung mit wenigen Strichen. Das Mädchen hinterlässt zwei schulterlange dunkelblonde Haare für mich.

Vor zwei Tagen hat ein Mann Mitte fünfzig meinen Skizzenblock inspiziert und mich gefragt: Was machen Sie da? Er hat sich aufdringlich vertraulich gegen den Tisch gelehnt, und ich habe wahrheitsgemäß geantwortet: Ich zeichne. Er hat meine aktuelle Skizze kritisch beäugt, aha, dachte ich, ein Kunstkenner, er hat mir von seiner Frau erzählt, die Kunstlehrerin am örtlichen Gymnasium ist, dann hat er gefragt, ob er mir Modell stehen dürfe. Ich fange eigentlich nur zufällige Situationen ein und sagte ihm das auch, aber er bestand auf einem Portrait. Ich habe seine Nase dann ein bisschen größer gemacht, als sie tatsächlich ist. Technisch gesehen war an meinem Bild nichts auszusetzen, aber er hat leidlich rote Ohren bekommen, als er sein Konterfei gesehen hat. Natürlich hat er versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er konnte mir ja auch nichts nachweisen; ich weiß genau, wie weit ich beim Überspitzen und Verfremden gehen kann.

Um halb vier, als ich gerade den weißen Kittel ausziehe, steht Jürgen neben mir und sagt: Ich möchte dich abholen. Ich habe ihn nicht kommen hören. Habe auch nicht erwartet, dass er mich eines Tages tatsächlich einmal abholen würde. Er fühlt sich unwohl, es steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ich umarme ihn, er verspannt sich und schiebt mich weg. Du riechst nach Putzmittel, sagt er. Das ist Raumduft, entgegne ich.

Der Mann hat einen blassen Teint und rotbraune Schuhe. Er steht mit dem Rücken zum Schaufenster und wartet auf jemanden, auf eine Frau vielleicht, seine Freundin, eine alte Bekannte. Das weiß nur er selbst. Seine Hände stecken in den Taschen seines Anoraks, die Schultern sind hochgezogen, er fröstelt. Ein Kind hat sich von seiner Mutter losgerissen und rennt an ihm vorbei. Er sieht es nicht. Auch nicht die alte Frau, der die Tüte mit den Orangen herunter gefallen ist, und der er unter normalen Umständen beim Aufsammeln behilflich wäre. Die Passanten nimmt er nicht wahr, er sucht nach einem ganz bestimmten Gesicht. Im Schaufenster der Bäckerei liegen Brotlaibe und Kuchen, deren Düfte dem Mann immer dann in die Nase steigen, wenn ein Kunde die Bäckerei betritt oder verlässt. Dazwischen riecht es nach Kälte. Dass Kälte einen eigenen Geruch hat, weiß jeder, der schon einmal in ihr gewartet hat. Sie riecht auch, wenn man sich in ihr bewegt, aber da ist man abgelenkt und merkt es nur selten.

Ich greife nach der Streichholzschachtel mit der Aufschrift "30.01.2006, m, ca. 45, kleine Narbe am linken Zeigefinger, sucht seinen Hund". Ich nehme das kräftige dunkle Haar heraus, lege es auf eine noch feuchte Stelle auf dem Gehweg, zwischen den Mann und das Kind, dann male ich mit Anthrazit darüber, das Haar verwächst mit dem Asphalt.

Manchmal verwende ich mehrere Haare pro Bild, aber das kommt nur äußerst selten vor. Meist genügt ein einziges Haar mit seiner Geschichte, um das Bild vor meinen Augen zum Leben zu erwecken. Die übermalten Haare erlauben mir, einen Teil meiner Gemälde für mich selbst zu bewahren. Jedem anderen Betrachter geben sie lediglich ihre Struktur preis, ihre frühere Farbe kenne nur ich. Es gibt Interessenten, die sich an den Haaren stören. Für sie sind es einfach nur Haare, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Aber es gibt auch die anderen. Solche, die hinter den Fremdkörper schauen und die Seele des Bildes erahnen. Meine Werke finden nicht viele Käufer, aber wer sich einmal zum Kauf entschlossen hat, tut es irgendwann ein weiteres Mal.

Du hast da ein Haar mit reingemanscht, sagt Jürgen; er ist hinter mich getreten und betrachtet den Mann vor der Bäckerei. Er wirft nur selten einen genaueren Blick auf das, was ich male, er könne damit nichts anfangen, hat er bereits zu Beginn unserer Beziehung beschlossen. Ich sehe Jürgen an, dann das Bild, und plötzlich verstehe ich, warum ich niemals eines seiner Haare verwendet habe. Ich habe welche archiviert, selbstverständlich, aber sie schienen nie in ein Gemälde zu passen. Jürgen steht vor der bunten Leinwand und wirkt beinahe stolz über seinen Fund, als habe er eine großartige Entdeckung gemacht. Da ist ein Haar, bekräftigt er noch einmal.

Ich weiß, sage ich.


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