I. Da ist kein Boden unter den Füßen des Mädchens. Beine strampeln, Arme schlagen um sich. Füße strecken sich, ohne Grund zu erreichen. Von den unkontrollierten Bewegungen ist das Wasser so aufgewühlt, dass die Schwimmerin die schwarze Markierungslinie auf dem gekachelten Boden nicht sehen kann. Der Junge guckt zu, wie das Mädchen orientierungslos im Wasser taumelt, wie es sich im Kreis dreht. Wie immer wieder ihr Kinn unter Wasser gerät. Der Mund. Die Nase. Die weit aufgerissenen Augen. Wie sich das Wasser kurz über dem Scheitel schließt. Die Arme und Beine unter Wasser weiterrudern. Dann der Kopf wieder auftaucht. Hustend, spuckend. Und wieder untergeht. Er betrachtet ihre Haare. Sie wogen hin und her, wickeln sich um Kopf und Arme. Er denkt an die Schlingpflanzen in dem brackigen See, an dem die Familie jedes Jahr Urlaub macht. Verregnet ist es dort. Flach das Wasser, man kann überall stehen. Diesmal soll es in den Süden gehen. Zu Korallenriffen und Hotels mit Swimmingpools. Sie soll endlich schwimmen, die Schwester, sonst werden sie auch in den nächsten zehn Jahren nur an den See fahren. Noch immer trudelt das Mädchen richtungslos im Wasser. Macht komische kleine Schaufelbewegungen, kommt aber nicht richtig hoch diesmal. Kommt einfach nicht hoch. Der Junge beginnt zu zittern. Auch er hat einmal der Bahnmarkierung folgen müssen und konnte nichts sehen. Nicht mal gedacht hat er an die Bahn. Nur ans Luftholen, die ganze Zeit. Er kneift sich in den Unterarm, bis die Haut weiß wird, starrt ins Schwimmbecken, atmet flach und zu schnell. Sieht ihr Gesicht endlich durch die Wasseroberfläche brechen. Ihr weit aufgerissener Rachen saugt stöhnend Luft in die Lungen. Hände und Unterarme schlagen auf das Wasser ein. Der Junge hört einen gurgelnden Schrei, sieht ihren Kopf wieder eintauchen. Unter Wasser beginnen ihre Hände nach der seitlichen Beckenwand zu greifen. Dorthin darf sie nicht, das weiß der Junge. Sie krallt sich in der Abflussrinne fest, zieht sich hoch, keucht, verschnauft kurz. Den Gummischieber, der sich über den glitschigen Schwimmbadboden auf sie zu bewegt, bemerkt sie zu spät. Der Junge hat ihn kommen sehen, hat rufen, warnen wollen, seine im Hals eingeschnürte Stimme nicht lösen können. Er sieht das Mädchen zurück ins Becken stürzen. Noch im Fall greift sie nach dem Stiel, hält sich fest. Der Bademeister versucht, sie abzuschütteln. Das Gesicht des Mädchens ist bleich und verbissen. Sie kämpft, ohne einen Laut von sich zu geben. Schließlich drückt der Mann den Schieber mit Kind daran so lange unter Wasser, bis sich die Hände des Mädchens vom Griff lösen. Mit ausgebreiteten Armen, geöffneten Händen treibt ihr Körper jetzt unter Wasser, schwingt hin und her. Der Junge kneift die Augen zusammen, er kann nicht erkennen, ob die Schwester sich selbst bewegt, oder ob ihr Körper nur noch vom Wasser bewegt wird. Der Badeanzug leuchtet rot im jetzt stillen Chlorwasser. Der Junge spürt seinen Herzschlag im Hals, seinen angespannten Körper, zum Sprung bereit. Zum ersten Mal blickt er zu den Erwachsenen hin. Der Bademeister inspiziert seinen nassen Gummischieber. Vater und Mutter stehen am Beckenrand, starren ins Wasser. Sein Mund wird trocken. Den Blick auf den Vater gerichtet, tritt der Junge schnell vor. Er kann inzwischen eine Viertelstunde ohne Pause schwimmen, und wie man jemanden rettet, das hat er im Fernsehen gesehen. Jetzt hat er den Beckenrand erreicht, setzt zum Sprung an. Da hebt der Vater den Blick. Lässt ihn über die mageren weißen Beine des Jungen gleiten. Über seine eingefallene Brust. Überdeutlich hört der Junge sofort, was er für einen Moment vergessen hatte: das Pfeifen und Brummen, mit dem die Luft mühsam aus seinen zu engen Bronchien strömt. Kurz nur blickt der Vater dem Sohn in die Augen, wendet sich dann ab. Der Junge kennt diesen Blick. Kraftlos bleibt er am Beckenrand stehen, den treibenden Schwesternkörper aus dem Blickfeld verlierend. Zu spät, denkt er, zu spät, zu spät, und der Gedanke trommelt einen Rhythmus in seinem Kopf. Und dann, noch während sich die Kälte dieser Erkenntnis in seinen Gliedern ausbreitet, hört er ein Platschen und Spritzen. Blickt auf. Sieht. Der Kopf des Mädchens durchstößt die Wasseroberfläche. Ihre Haare kleben dunkel am Kopf, ihr Mund ist weit aufgerissen, das Gesicht weiß. Der Junge kann das Pfeifen hören, mit dem die Luft in ihre Lungen fährt. In all dem spritzenden, gurgelnden Auf und Ab ist kaum eine Richtung zu erkennen. Und doch ist sie plötzlich dort. Am Ende der schwarzen Bahn. Mit kräftiger Hand zieht der Bademeister das Mädchen aus dem Wasser. Sagt etwas mit zufriedener Stimme, er klingt wie der Vater beim Schulterklopfen. Mutter und Vater lachen verhalten über die Bemerkung des Mannes. Die Schwester starrt auf ihre Füße, als er ihr eine goldfarbene Medaille umhängt. "Das hast du aber spannend gemacht", sagt der Vater und tätschelt kurz ihre nasse Wange. "Jetzt kann der Urlaub kommen", sagt die Mutter. Sie rubbelt die Tochter trocken. Der Bruder will auch etwas sagen, aber ihm fällt nichts ein, und die Schwester sieht ihn nur einmal an, dann lange weg.

II. Schweiß verdampft auf Plastikliegen. Grelles Licht wirft Muster durch Bastsonnenschirme. Tropenwarm das Wasser des Pools. Die schmale Mädchenhand ist ans Treppengeländer gekrallt. Seit Stunden schon. Das Mädchen steht bis zu den Knien im Wasser. Der Oberkörper ist trocken, hebt und senkt sich mit ihrem keuchenden Atem. Die Schultern von der Sonne verbrannt. Der Weg ins Wasser hat den Eltern zu lang gedauert. Sie sind im Hotelrestaurant verschwunden. Er kann das nicht mit ansehen, hat der Vater gesagt. Und dass der Bruder gut aufpassen soll, dass seine Schwester nicht zu tief ins Wasser geht. Das "tief" mit spöttischer Betonung. Und viel Spaß beim Schwimmen, ihr Sportskanonen.

Der Pool ist nicht tief, der Junge kann fast überall stehen, aber die Schwester ist kleiner. Sie erreicht den Boden nur nah der Treppe. Er wird aufpassen, das nimmt der Junge sich vor. Diesmal wird er bei ihr bleiben. Eine Weile stehen die Geschwister beieinander, träumend. Dem Jungen wird heiß. Er betrachtet ein Mädchen im silbrig glänzenden Badeanzug. Sie taucht durchs Becken, einen Schleier aus schwarzem Haar hinter sich ausbreitend. Spritzt plötzlich vor den Geschwistern aus dem Wasser, übergießt sie dabei mit einer Fontäne aus Wassertropfen und Gelächter. Der Junge versteht nichts von dem, was die Fremde sagt, aber er lacht mit. Als sie sich vom Beckenrand abstößt, die Beine wellenartig durchs Wasser bewegt, gleiten seine Gedanken hinter ihr her ins glitzernde Nass. Mal taucht ihr geschlossenes Fußpaar auf, dann der geschmeidige dunkle Körper. Jetzt pflügen ihre schlanken Arme abwechselnd wie Ruder durchs Blau. Wenn sie zum Luftholen hochkommt, sucht er die Stelle, an der sich der silberne Stoff über ihrer Brust spannt. Sie dreht sich nach ihm um, lacht, winkt, ruft. Da springt auch er hinein. Schnell lernt er von ihr, ohne Worte, lernt, durchs Wasser zu wellen wie ein Delfin, auf dem Grund des Pools entlangzugleiten wie eine Schlange. Jetzt könnte der Mann mit dem Schieber ruhig kommen, denkt er und macht einen Handstand auf dem Beckengrund. Wasser dringt in seine Nase. Hustend taucht er auf, das fremde Mädchen suchend. Sein Blick streift die Beckenwand mit der Treppe, dort, wo eben noch die Schwester gestanden hat. Sie ist leer. Im gleißenden Licht kneift er die Augen zusammen. Sucht alle Beckenränder, Treppen, Liegestühle ab. Zwingt den Blick dann auf den Schwimmbadboden. Klettert aus dem Wasser, dreht sich, mit der Hand die Augen abschirmend, einmal um die eigene Achse. Das fremde Mädchen ruft etwas. Der Junge antwortet nicht, er hat jetzt keine Zeit für Spiele. Läuft mit schweren Beinen zur Hotelbar, zum Grill, in die Küche, fragt überall stumm nach der Schwester, mit den Händen die langen Haare und die kleinere Körpergröße zeigend. Erntet überall bedauerndes Schulterzucken. Sieht auch die Eltern nicht. Fährt mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock. Die Tür ist angelehnt. Er lächelt. Freudig und ein bisschen vorwurfsvoll ruft er ins Zimmer hinein. Keine Antwort. Er öffnet die Tür. Das Zimmer ist leer. In der Kälte des klimatisierten Raumes beginnt sein Atem zu rasseln. Wenn sie nun doch noch unten ist, wenn er nicht gründlich genug gesucht hat. Ein Moment der Starre. Ein Blick zurück zur Tür. Er wird es nicht mehr rechtzeitig nach unten schaffen. Zu spät. Zu spät. Der vertraute Gedanke hämmert in seinem Kopf. Ohren zuhalten. Beine bewegen. Zum Fenster laufen. Die Nase an die kühle Scheibe pressen. Liegewiese, Bastsonnenschirme, Pool. Da. Undeutlich leuchtet etwas Rotes im Wasser auf, dann beschlägt die Scheibe. Er nestelt mit klammen Fingern am Riegel, das Fenster lässt sich bestimmt nicht öffnen, doch, jetzt ist es offen. Er beugt sich weit hinaus. Kann die Schwester nicht sehen. Dafür die silberne Schwimmerin. Sie bewegt die Arme über ihrem Kopf, wie beim Winken. Er beugt sich noch weiter hinaus, erkennt die Eltern am Beckenrand, ruft, winkt, schreit. Wird nicht gehört. Klettert auf die Fensterbank. Fühlt das Plastik unter den Knien. Greift den Rahmen, zieht sich hoch. Spürt, wie feuchte Tropenwärme gegen Brust und Beine drängt. Taumelt beim Blick nach unten im Schwindel. Die Wasseroberfläche glänzt hart im Sonnenlicht. Darin jetzt wieder dieses verschwommene Fleckchen Rot. Und auch das Mädchen in Silber. Ihre winkenden braunen Arme sieht er ganz deutlich. Er schließt die Augen, vergleicht die Höhe in Gedanken mit dem Zehnmeterturm zuhause, erschrickt. Geht trotzdem in die Hocke, Schwung nehmend. Meint plötzlich Applaus zu hören. Gelächter. Hält in der Bewegung inne. Klammert sich an den Fensterrahmen, reißt den abrutschenden Fuß zurück. Öffnet die Augen vorsichtig. Blinzelt. Sieht dann alles.

Eine Weile hält er sich am Rahmen fest, lauscht dem Keuchen in seiner Brust, das sich langsam beruhigt. Steht dann freihändig, eine reglose Figur im Fenster, von niemandem bemerkt. Betrachtet die puppenkleinen Menschen in der Tiefe. Ein Mädchen im roten Badeanzug, paddelnd mit erhobenem Kopf. Eine schwarzhaarige Schwimmerin mit ausgebreiteten Armen. Einen Mann und eine Frau am Beckenrand, applaudierend. Und die glitzernde, harte Oberfläche des Wassers.


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