Rund 800 eingesandte Erzählungen, sechs Juroren und drei Preisträger: Den dritten Preis der Ausschreibung von Hamburger Abendblatt, Heinrich-Heine-Buchhandlung und den Verlagen Diogenes, Carl Hanser und Rowohlt erhält Fotini Ladaki für ihre Erzählung “Valentine und Pauline“.

Wer nach Saint Darkness wollte, musste selber zusehen, wie er am besten dorthin kam. Denn weder Busse noch Züge waren je eingesetzt worden. Der Wind wehte stets von den schroffen Bergen und raubte den Menschen den Verstand. Aufgewühlt erzählten sie Geschichten von Leichen Ertrunkener, die unter dem ölig schwarz schimmernden Wasser der Sümpfe lauerten. Und die affenköpfigen Orchideen blühten nicht nur in ihrer Fantasie, sondern reihenweise auch am Rande der sumpfigen Mulden. Man sagte, in diesem Tal lebten mehr Geister als registrierte Menschen. Und die Behausungen waren so weit voneinander verstreut, dass Kinder Mühe hatten, sich gegenseitig aufzusuchen. Nicht jedoch Pauline und Valentine, die in einer heruntergekommenen Missionsstation um die gleiche Zeit und aus ungleichen Müttern ans Licht der Welt gezerrt worden waren. Die Wöchnerinnen lagen ermattet am Boden, als die Oberin das einzig existierende Lichtbild beider Mädchen machen ließ. Die Säuglinge ähnelten eher zwei nackten Riesenraupen als menschlichen Kreaturen. Diese Tatsache und einige andere Ereignisse schmiedeten die beiden später aneinander, wie nur Bäume an einem Bergfels zusammenwachsen. Sie führten aufreizende Dialoge in Geheimsprachen, ohne das Geringste von sich preiszugeben. Sie duldeten sich, ohne sich zu verletzen. Nie war ein Wunder geschehen. An diesem Tag aber sollte es anders werden.

Valentine und Pauline saßen auf dem unteren Ast eines alten Baumes und schauten in die Leere. Dabei schlugen sie mit Ruten in die Luft. Denn jeden ersten Freitag musste die Zeit totgeschlagen werden.

- Schau nicht hin Valentine, denn unser Haus brennt wie eine einzige Flammenglut. Sonne und Mond schmelzen zusammen. Sei brav, Valentine. Wir sollen so lange ausharren, bis die Tür aufgeht. Ja?

- Die Hölle, sagte Valentine.

- Ja, ja, erwiderte Pauline. Vom Sehen allein kann man Kopfweh und Sinnestäuschungen kriegen. Dann verwandelt sich manche Sonnenblume in ein männliches Gesicht. Ja? Affenschnell sauste sie an den Ästen entlang, hielt inne, schätzte die Höhe, schaute in die Tiefe, machte ein paar Drehungen wie die Blechfigur eines Aufdrehspielzeugs, bis ihr der Kopf schwirrte, schnellte noch höher und seufzte. Valentine zog mit der Spitze ihres rechten Schuhs Linienmuster in die bronzefarbene Erde. Mit flüchtigen Blicken schaute sie in die Richtung des Hauses, als wollte sie das Geheimnis Paulines begreifen.

- Höher, höher, befahl Pauline spöttisch. Seien Sie kein Feigling, Fräulein Valentine. Sie werden weder ihre Perücke noch ihr kostbares Täschchen verlieren. Als von Valentine kein Zeichen kam, wurde Pauline ungehalten. Teufel noch mal, Valentine, husch und jemine. Ich zeige dir etwas, das du nie gesehen hast. Pauline hatte langes, verfilztes Haar, das ihr bis über die Hüfte fiel. Ihr Gesicht oder was davon noch zu sehen war, ähnelte einem flachen Tiefseefisch. Ihre Augen, zusammengekniffen und hellgrün, bewegten sich flink. Und manche Falten, die sich zu früh in ihr Gesicht eingraviert hatten, erinnerten an alternde Gnome. Sie trug einen mokkafarbenen Rock. Eine Bambuskordel war um ihre Taille geschlungen. Über dem Rock wedelte ein von Motten zerlöcherter, smaragdgrüner Bolero. Eine Halskette aus blaugrünen Plastikperlen baumelte an ihrer Brust, und die Zehnägel ihrer knöchernen Füße waren mit blutrotem Lack überzogen. - Puh, war alles, was Valentine zu ihrer Verteidigung vorbrachte und schaute zu der getigerten Katze, die nicht weit vom Baum ihre Krallen schärfte. "Lakritzen vom Feinsten", sagte Valentine leise, und ihre Augen verklärten sich. "Karamellbonbons, Mondhörnchen mit Mandelfüllung, Steaks, so groß wie Espandrillos", fügte sie hinzu.

- Psst, zischte Pauline. Sei doch still, sonst kommt auch noch die Katze und bettelt uns an.

- Es ist das Natürlichste auf der Welt, dass Katzen ihre Herrschaften anbetteln, sagte Valentine mit Nachdruck. Ihnen soll es auch vergönnt sein, hin und wieder etwas Gescheites in den Magen zu kriegen. Auch Valentine war ein dürres Gestell. Sie trug eine von Motten durchlöcherte sumpfgrüne Hose und hielt sie an ihrer mageren Taille mit einem zerfransten Lederriemen zusammen. Die Spuren eines verfrühten Schreckens hatten jede Sanftheit aus ihrem Gesicht getilgt. Verstohlen schaute sie wieder in die Richtung des Hauses.

- Komm rauf, Schwesterchen, hier ist massenhaft Platz, trällerte ihr Pauline entgegen und hing kopfüber vom Ast.

- Unser Haus ist stets offen, erwiderte Valentine.

- Schau mal, wie groß ich werden kann, erwiderte Pauline. Sie stellte sich auf einem dicken Ast auf die Zehen und streckte ihre Arme aus. Wie im Zirkus schaukelte sie dann in der Luft, und die Höhe klaffte unter ihrem mageren Körper.

Nichts hätte ihre Zweisamkeit gestört, wenn nicht jeden Freitag auch Donna Emilia des Weges kam, um im nächsten Dorf ihre Dienste als Wahrsagerin anzubieten. Als sie dicht neben dem Baum ihre schwere Reisetasche auf den Boden fallen ließ, mit der Hand über die Stirn wischte und "guten Tag" sagte, erschrak Valentine.

- Wo kommst du daher, fragte sie, um ihren Schrecken herunterzuspielen. Du hast wirklich keine Manieren. Es lohnt sich womöglich nicht, dich wie einen vernünftigen Menschen, geschweige wie eine Dame zu behandeln. Die Frau rümpfte verächtlich die Nase und warf Valentine einen misslaunigen Blick zu.

- Das eine Leben reicht nicht aus, um es allen rechtzumachen, sagte sie und wirbelte ihren Rucksack nach vorn. Sie öffnete ihn, griff nach einem blühenden Hartriegelzweig, dann nach einer jodfarbenen Flasche ohne Etikett, nahm einen kräftigen Schluck und verschloss sie wieder. - Ah, pfiff Pauline und eilte herbei. Donna Emilia, lesen Sie mir auch mal aus der Hand?

- Kinder haben keine Zukunft, sagte die Frau schroff und tat die Flasche in den Rucksack zurück.

- Ich bin kein Kind mehr. Ich bin schon neun.

- Achteinhalb, korrigierte sie Valentine.

- Will man dem Teufel die Goldzunge lösen, muss man ihm Silber und Gold einflößen. Davon fehlt dir jede Spur.

- Sagen Sie es nicht, Donna Emilia. Das bisschen Gold könnte ich, Pauline überlegte eine Weile mit angestrengter Miene, mühelos besorgen. Valentine schaute sie mit aufgerissenen Augen an. Donna Emilia nahm eine dicke Zigarre, setzte sie in Brand, formte einen makellosen Ring und sagte: "Nächsten Freitag um die gleiche Zeit lese ich dir aus der Hand. Eine Zukunft gibt es aber nicht."

- Dafür ein Leben, prahlte Pauline. Donna Emilia lächelte seltsam und leckte ihre wulstigen Lippen. Sie hatte so viel Rouge aufgelegt, dass es einen blendete. Valentines Blicke wanderten in einer Weise zwischen Donna Emilias Kette aus Türkisperlen und Pauline hin und her, als tänzelten sie auf Seiten, die über den Hohlraum eines Instruments gespannt waren. Sie glaubte, seltsame Töne zu hören, die emporkrochen und sie ergriffen. Und eine Vorahnung breitete sich in ihr aus, als spürte sie die Unheimlichkeit der Zeit und dass jede Zukunft bereits in der Vergangenheit beschlossen wird.

- Etwas Derartiges geschieht eben, wenn man unbedingt das allerkleinste Kästchen aufmachen will, bemerkte Donna Emilia und hatte es plötzlich sehr eilig. Sie verschwand hinter dem Feld mit dem hohen Gras, und die Katze hörte auf, ihre Krallen zu schärfen.

- Mein Vater bringt die alte Hehlerin ins Gefängnis, drohte Valentine. Und was willst du mit der Zukunft, wenn du alle Zeit der Welt haben kannst. - Komm jetzt, sagte Pauline und zog Valentine hinter sich her. Als sie unter der Krone des Baumes Platz genommen hatten, flüsterte Pauline eigenartiges Zeug von einer goldenen Uhr, die sie spielend an sich reißen könnte.

- Spukts bei euch? Valentine kramte in ihrer Tasche und holte einen Talisman heraus.

- Das fragt sich der Mann auch, sagte Pauline und folgte mit ihrem Blick einem Schwarm summender Insekten, die sich zu einem filigranen Spitzennetz, wie aus schwarz glänzender Seide, formiert hatten.

- Welcher Mann?

- Der Mann mit der goldenen Uhr und dem weißen Anzug.

- Kennst du ihn?

- Nee, aber wenn er am Freitag kommt und wieder geht, gibt meine Ma mir das Geld für die Köstlichkeiten. Zwei Scheine so hauchdünn und fein wie die seidenen Handschuhe einer Dame. Mit einem Ruck zog Pauline ihre Unterhose hoch.

- Meine Ma liebt mich, sagte Valentine und spitzte ihre Lippen. - Meine Ma liebt mich mehr, antwortete Pauline.

Eine frische Brise sauste über die Ebene und brachte den beißenden Duft von Steinpulver und Kalkstein her. Valentine seufzte.

- Um diese Zeit macht mir meine Ma ein Zuckerbrot.

- Tsss, ein Zuckerbrot kriege ich immer, wenn ich will. - Woher sollen all die Köstlichkeiten kommen, fragte Valentine. - Da, zeigte Pauline in die Richtung des Dorfes. Da gibt es einen Laden überaus voll von Kräuterbüscheln, Bonbons aus kandierten Rosenblättern, Honigwaben, Gewürznelken und Orangen so groß wie Tigerköpfe. Valentine kniff die Augen zusammen.

- Ach, wie rasch die Zeit vergeht, sagte sie. Es ist alles möglich, Pauline, denn der Himmel ist überall gleich. Pauline hielt Ausschau nach einem Adler, der mit erstarrten Schwingen über dem Hause kreiste. Und genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ein Mann mit Hut und weißem Anzug trat auf die Balustrade. Er streckte sich gegen den Wind. Mit den beringten Fingern ging er durch sein Haar. Eine Uhr aus funkelndem Gold spiegelte die Sonne wider. Dann zündete er eine Zigarre an und rückte seine Krawatte zurecht. Hinter ihm trat eine Frau in Unterrock heraus.

Valentine stieß einen leisen Schrei aus und presste ihre Hand auf die Augen.

- Sie ist ja nackt, wie Eva im Paradies.

- Das ist meine Ma, sagte Pauline mit stolzer Brust. Sie trägt einen kostbaren Seidenunterrock. Bin ich eines Tages auch so groß, gehe ich nach Moulin Rouge und komme nie mehr wieder.

- Wie du willst, sagte Valentine. An deinen Pa erinnere ich mich noch gut. - Mein Pa ist in der Armee.

- Im Gefängnis, sagte Valentine.

- Du hast mir versprochen, still zu sein.

- Lieber Himmel, habe ich das? Valentine legte die Stirn in Falten und warf ihren Kopf zurück, als könnte sie den Rauchfang der Zeit hinaufklettern, um unsichtbare Gestalten nach dem Wert der Dinge zu befragen. Eine Sekunde lang schien sie wie gelähmt. Tod, sang der Baum. Raub, hauchte der Wind. Verloren, summte das Gras. Unter der Gewalt dieser Stimmen bäumte sich Valentine noch einmal auf.

Bei euch spukt es wirklich, Pauline.