“Nordwand“ heißt der Film von Philipp Stölzl, der das Hamburger Filmfest nächste Woche eröffnet, in den Hauptrollen Benno Fürmann und Florian Lukas. Er handelt von dem Versuch zweier Deutscher, 1936 den Eiger zu besteigen - und ihrem furchtbaren Scheitern. Ein Besuch am Drehort Grindelwald und eine Fahrt in die eisige Höhe der Berge.

Nur grauer Nebel. Mal dunstiger - dann ahnt man das schwarze Gestein darunter -, dann wieder dick und völlig undurchsichtig. Die Nordwand des Eiger mag sich nicht sehen lassen. Die Wolken über dem Berner Oberland hängen so tief, als wollten sie die berüchtigte Felswand mit einem Vorhang vor neugierigen Blicken schützen.

Die Wand ist die eigentliche Hauptperson in Philipp Stölzls Bergdrama "Nordwand". Hier ereignete sich im Juli 1936 ein Drama, das schon damals mit größter Anteilnahme von der Öffentlichkeit verfolgt wurde, die gescheiterte Erstbezwingung der Eiger-Nordwand. Angepeitscht durch Hitlers Propaganda wagten es zwei junge Deutsche, die gefürchtete Nordwand des 3200 Meter hohen Eiger zu besteigen. Sie sollten ihren Mut mit dem Leben bezahlen.

Bis 1932 waren alle Seiten des Berges bestiegen, nur die mächtige, 1800 Meter hohe Nordwand nicht - sie galt als nicht besteigbar. Hitler tönte, dass die Ehre der Erstbesteigung natürlich einem Deutschen zukommen müsse. Dabei waren Toni Kurz und Andi Hinterstoisser, die 23 und 22 Jahre alten Soldaten, gar keine Profi-Alpinisten. Nur leidenschaftliche, wenn auch höchst routinierte Hobby-Bergsteiger aus Berchtesgaden.

Von keinem anderen Berg der Alpen wurde vor dem Zweiten Weltkrieg mehr berichtet als vom "Mythos Eiger", und die Faszination wirkte bis in die späten Sechzigerjahre fort. Grindelwald lebt von diesem Mythos. Das liebliche Städtchen im Berner Oberland ist umgeben von Eiger, Jungfrau und Mönch. Die Dreitausender bieten einen imposanten, ja fast erschlagenden Eindruck - auch einen der Bedrohung. Eine stete Mahnung, dass Natur auch Gewalt ist.

Den besten Blick auf die Nordwand bekommt man vom Jungfraujoch. Mit einer kleinen, pittoresken Bahn geht es von Grindelwald aus zuerst steil und kurvig herab in ein Tal, dann klettern die Waggons über saftige Almen immer höher in die Berge.

Zwischenstation ist die Kleine Scheidegg. Hier sieht es noch immer aus wie in den Dreißigerjahren, drei Häuser, der Bahnhof, das noch immer ehrwürdige Hotel Bellevue, in dem schon damals die wohlhabenderen Bergtouristen Quartier bezogen. Es ist liebevoll restauriert worden und atmet immer noch den Charme von früher. Hier knarrt das Parkett, auf den Gängen entdeckt man Fotos von Legenden wie Luis Trenker, und in der wunderbaren, kleinen, getäfelten Bar bekommt man heiße Schokolade serviert, in der der Löffel senkrecht stehen bleibt. Nur die Hauptattraktion macht sich rar. Auch jetzt ist die Nordwand nicht zu erkennen - wie so oft ist sie von Nebelschwaden verhangen.

Die Wiederbelebung der Geschichte der jungen Bergsteiger auf der Kinoleinwand leitet eine Renaissance eines Genres ein, das bis in die Sechzigerjahre das erfolgreichste des deutschen Kinos war - das des Bergfilmes. Nicht nur Regisseur Philipp Stölzl (40), der mit Benno Führmann und Florian Lukas namhafte Schauspieler für diese Idee gewinnen konnte und der sich bisher mit Opern- und Musikvideo-Inszenierungen einen Namen gemacht hat, ist diesem Reiz erlegen. Der Dreh war eine heftige Herausforderung, erzählen Fürmann und Lukas beim Gespräch im Hotel Bellevue auf der Kleinen Scheidegg, das direkt unter der Nordwand liegt. Monatelang haben sie sich vorbereitet. Übten Haken einschlagen, biwakieren, wändeln und Schluchten traversieren. Besonders Florian Lukas ist seitdem ins Bergsteigen vernarrt. Vor wenigen Wochen hat er den Eiger zusammen mit einem anderen Kollegen aus dem Team "noch mal richtig" erklommen. "Dieser Film hat mein Leben verändert", sagt er, "dabei hatte ich als Berliner vorher nie was mit Bergen am Hut."

Wenn die Gesichter vor Kälte verzerrt sind, ist das nicht gespielt. Die Szenen, in denen die Bergsteiger die Nacht im Biwak an der Felswand verbringen müssen, sind in einem Kühlhaus in der Nähe von Graz entstanden. Sonst werden hier frische Früchte, vor allem Beeren gelagert. "Unsere Gesichter waren so vereist", sagt Benno Fürmann, "dass wir sie kaum mehr fühlten. Das war jenseits der Schmerzgrenze."

Doch die größte Diva beim Dreh war der Berg selbst. Die extrem schnell wechselnden Wetterverhältnisse, die den Alpinisten 1936 zum Verhängnis wurden, brachten Stölzl, wie er sagt "an den Rand von Depressionen". Tagelang wartete er auf einen einzigen Schuss der Eigerwand im Sonnenlicht - doch der Wunsch blieb unerfüllt. Der Eiger hüllte sich jeden Tag aufs Neue höchst eigensinnig in seinen Nebelvorhang.

Weiter geht's nach oben. Eine Zahnradbahn führt durch einen Tunnel im Berg bis in 3200 Meter Höhe. Die Fahrt dauert eine knappe halbe Stunde. Auf halber Höhe hält der Zug noch einmal an - hier befindet sich die Station "Eigerwand". Für fünf Minuten Aussteigen. Von hier aus kann man sich den besten Eindruck von dem steil abfallenden Fels machen. Dort, wo früher ein Stollenausstieg war, führt jetzt ein Betontunnel an ein riesiges Panoramafenster. Und da geht es steil hinunter. Atemberaubend erschreckend. Ein vertikales Amphitheater nannte es mal ein Eiger-Spezialist. Dort, wo heute Schnappschüsse gemacht werden, spielte sich das letzte Kapitel der "Nordwand"-Tragödie ab. Bis hierhin konnte sich der letzte der Kletterer aus der Gruppe um Kurz und Hinterstoisser abseilen. Wenige Meter unter ihm, im Ausstieg, warteten die Helfer. Doch das Seil war nicht lang genug. Toni Kurz erfror vor ihren Augen.

Wie gnadenlos das Wetter ist, wird einem ganz oben auf dem Jungfraujoch bewusst. Auf dem Gipfel herrscht Schneesturm - im Juli, wie damals 1936. Unten im Tal herrscht Hochsommer. Im Nu begreift man, wie ausgeliefert Bergsteiger den Elementen sind. Der Wind fegt eisig umher. Schneeflocken rasen waagerecht vorbei. Durch die durchjagenden Wolkenfetzen beträgt die Sicht nie mehr als fünfzig Meter. "Scheiß ungemütlich", flucht jemand völlig zutreffend. Noch heftiger wird es auf dem Plateau der Forschungsstation ein paar Meter weiter.

Wenn man vor Ort ist und Wind, Wetter und Wand mit eigenen Augen erlebt, ist es kaum vorstellbar, dass die Seilschaft von Kurz und Hinterstoisser ohne Hightech überhaupt so weit kam. Die ansässigen Bergführer, die jetzt für die Sicherheit von Fürmann und Co zuständig waren, staunen heute noch über die Leistung der tollkühnen Burschen. Weder Wettervorhersage noch Ausrüstung waren nur ansatzweise mit dem Standard von heute zu vergleichen. Ein Blick an den Nachthimmel musste als Prognose reichen. Die beiden Wagemutigen trugen Wollhandschuhe, unter den Schuhen einfache Spikes, die Haken hatten sie selbst gegossen, und die Strecke von Berchtesgaden nach Grindelwald zum Fuß des Eiger waren sie mit dem Fahrrad gefahren.

Es war der 20. Juli, als die Freunde in einer sternenklaren Nacht starteten. Vom Grandhotel Bellevue konnten Schaulustige am nächsten Tag mitverfolgen, wie fix die beiden vorankamen. Doch dann schlug das Wetter um - ein Schneesturm kam auf. In der Seilschaft, die sie verfolgte, wurde einer der beiden Konkurrenten schwer verletzt. Kurz und Hinterstoisser entschlossen sich, ihn zu retten und dafür den Traum vom Gipfelsturm aufzugeben. Sie kehrten um. Hofften, das Leben des Kameraden durch den Abstieg retten zu können. Doch die Wand war gnadenlos. Von den vieren kam keiner zurück.

Neun Alpinisten kamen bis jetzt beim Versuch der Besteigung der Eiger-Nordwand um. Erst 1938 gelang es den Deutschen Anderl Hackmair und Ludwig Vörr sowie den Österreichern Heinrich Harrer und Fritz Kasparek, den Berg zu bezwingen. Die vielen Tragödien, die sich teilweise über Tage hinweg hinzogen, wurden immer wieder in Reportagen geschildert.

Heute kommen bis zu 1,5 Millionen Touristen im Jahr hier hoch, darunter viele Japaner. Für sie ist das Bergspektakel der Höhepunkt ihrer Europa-Tournee -"The Top of Europe" heißt es nicht umsonst. Das Jungfraujoch ist die höchste befahrbare Stelle Europas. Vor dem Umsteigen lassen sich viele noch begeistert mit dem riesigen Bernhardinerhund fotografieren, der geduldig mitsamt Fässchen um den Hals am Bahnhof steht. Das Foto gibt es für zehn Franken.

Nach allen Seiten fällt der Berg steil ab. Beim Blick durch den Gitterboden sieht man, dass es unter den eigenen Füßen senkrecht nach unten geht. Würde das Gitter nachgeben, fiele man im freien Fall auf die Felsen. Das ist der Moment, in dem auch jedem noch so Schwindelfreien schwummrig wird. Selbst hier sind einige Szenen entstanden. An Kränen wurden die Schauspieler abgelassen, um "leichtere Aufstiegsszenen", wie Stölzl es nennt, zu drehen.

In der Ferne sieht man durch den wirbelnden Schnee sechs kleine Punkte. Eine Seilschaft, die absteigt. Bei diesem Wetter? Verwegen, geradezu irre, denkt man unweigerlich.

Im Film werden diese Gedanken von einer jungen Reporterin geäußert, die das Bergsteigerdrama beobachtet. "Wie soll dort je ein Mensch hinaufkommen? Und vor allem: Warum sollte er es wollen?", sind die Worte der Journalistin Luise, als sie das erste Mal die zerklüftete Bergwand mit eigenen Augen sieht und ihre Unheil bringende Präsenz erahnt.

Aber diese Fragen müssen wohl im Ohr jedes echten Bergbesessenen wie ein wunderbarer Lockruf klingen.