Dieser Film dürfte für Diskussionen sorgen. In “Wolke 9“ erzählt Andreas Dresen von Inge, die sich mit Mitte 60 noch einmal verliebt. Ihr Schwarm Karl ist 79 Jahre alt, was der Liebe und der Leidenschaft keinen Abbruch tut. Inges Mann Werner versteht die Welt nicht mehr. Der ebenso warmherzige wie dramatische Film lief beim Festival in Cannes mit viel Erfolg. Ein Gespräch mit Regisseur Dresen über Liebe und Sex im Alter.

Journal:

Ist das ein Film für die Generation Viagra?

Andreas Dresen:

Es ist einer für alle Generationen. Alt werden wir alle, ob wir ihn noch hochkriegen oder nicht. Es geht ja in erster Linie auch nicht um Sex, sondern darum, dass man sich nicht zu sicher fühlen sollte im Leben. Es kann einen immer noch mal erwischen und aus den Schuhen hauen. Auch nach 30 Jahren Ehe ist das noch drin. Man wird zwar runzlig und verschrumpelt, aber die Seele bleibt doch irgendwie die eines Teenagers. Das finde ich tröstlich. Man bleibt so impulsiv wie man eben in Liebesdingen ist. Das ist doch auch eine frohe Botschaft in einer Welt, in der immer alles nach Plan funktionieren soll. Manche Dinge lassen sich eben nicht takten. Das ist ein sehr schönes anarchisches Element.



Sie haben auch schon in "Sommer vorm Balkon" das Leben und die Sorgen älterer Leute angerissen. Wie kommen Sie auf das Thema?

Man fängt an, sich damit zu beschäftigen, ich bin ja auch schon 45. Ein Freund von mir, der belgische Regisseur Piet Eekman, hat einen Dokumentarfilm gemacht, der "Die Männer meiner Oma" heißt. Der beginnt mit der Schrifttafel: "Mein Produzent wollte einen Film über Sex. 'Machen wir', sagte meine Oma ..." In dem Film erzählt eine 78 Jahre alte Frau über die Männer ihres Lebens und über den Sex, den sie mit ihnen hatte. Sie erzählt auch, dass sie bis vor Kurzem noch masturbiert hat. Allerdings bekam sie dann einen Herzinfarkt und sagt, sie wolle nicht auch noch daran sterben. Das hat mich ziemlich aus den Socken gehauen. Das gesellschaftliche Klischee ist doch: Mit 60 ist damit Schluss. Aber das ist natürlich genauso idiotisch wie der Umstand, dass man mit 16 Jahren seinen Eltern keinen Sex zutraut. Zumindest findet man dann ja die Vorstellung etwas komisch.



Warum gibt es zu dem Thema denn bisher nur so wenige Filme?

Wenn, dann sind sie entweder kitschig oder die Alten werden bestenfalls als schrullig dargestellt. Existenziell wird es in den seltensten Fällen ernst genommen.



Woran könnte das liegen? Ist das eher ein Problem der Alten oder der Jungen?

Ich glaube, eins der Jungen. Das ist wohl Angst vor dem körperlichen Verfall und vor dem Tod. Deshalb versucht man ja auch alle Alterserscheinungen immer wegzudrücken. Männer haben einen Waschbrettbauch zu haben, und die Frauen spritzen sich Botox in die Augenfalten. Das ist doch verrückt, weil auch alte Gesichter eine eigene, wenn auch alte Schönheit haben. Der gesellschaftliche Konsens wird eben durch die Models auf den Titelseiten definiert.



Mussten Sie und Ihre Schauspieler sich vor den Sexszenen überwinden?

Es war ja vorher klar, dass es Nacktheit geben sollte, und alle wollten das auch. Wenn man es dann tun muss, ist es für einen Moment komisch. Aber dann ging es ganz unkompliziert. Wir waren auch nur ein ganz kleines Team. Die gesamte gemeinsame Arbeit war sehr von Vertrauen geprägt. Man geht voran und verliert nach und nach die Scheu. Aber zugegeben: Schauspielern, die dreißig Jahre älter sind, zu sagen, wie sie sich beim Sex verhalten sollen, fällt auch mir schwer. Andererseits wollte ich nicht diese allgemeinen Sexszenen, von denen es im Kino viel zu viele gibt. Bei alten Menschen zeigen Regisseure sonst sowieso nichts. Man sieht höchstens mal ein Bettlaken und Bilder in Sepiafarben mit Klaviermusik. Ich wollte, dass die Zuschauer genau wissen, was geschieht. Aber wir wollten niemanden schocken.



War es schwierig, die Schauspieler zu fragen, ob sie mitmachen wollten?

Überhaupt nicht. Ich kannte sie vorher schon. Ich hatte damals noch kein fertiges Drehbuch, sondern nur die Idee eines Films. Ich habe mich während der Berlinale im vergangenen Jahr mit ihnen getroffen, und sie wollten. Nur eine wollte nicht, weil sie vor diesen Szenen Hemmungen hatte.



Wie verhielt sich das mit den Szenen, in denen die Schauspieler sich seelisch entblößen mussten?

Die waren letztlich sogar noch schwieriger.



Inge stellt sich die Frage, ob sie gehen soll, obwohl sie mit ihrem Mann, mit dem sie schon lange zusammenlebt, nicht unglücklich ist. Ist das auch eine Frage der Moral?

Für mich steht das außerhalb jeder Diskussion. Für mich ist das, was Inge macht, konsequent. Man muss sich vielmehr fragen, ist es nicht seltsam, dass eine Gesellschaft es sanktioniert, wenn ein Paar in der Lüge lebt, es aber nicht akzeptiert, wenn eine Frau die Wahrheit sagt? Sie macht ja nichts weiter, als zu sagen: Ich kann dem Mann, den ich immer noch liebe, nicht mehr in die Augen schauen, wenn ich ihn ständig anlüge. Das soll ein Verbrechen sein? Das wundert mich schon. Die Frage nach der Moral stellt sich für mich in diesem Fall überhaupt nicht. Es ist ja auch eine Konsequenz dieser Geschichte. Man kann zwar sagen, dass die Gefühle, die die Leute antreiben, mit 70 oder 80 Jahren ähnlich sind wie mit 16. Aber die Konsequenzen sind andere.



In diesem Fall insbesondere für Inges Mann. Haben Sie die Konstellation zufällig so gewählt?

Nein. Es gibt Studien und Statistiken darüber, dass Männer ab Mitte 60 eine sehr viel höhere Selbstmordquote haben als Frauen. Das hat vermutlich etwas damit zu tun, wie Menschen sich in ihrem Leben sozial verankern. Männer sind mehr an Beruf und Karriere orientiert, Frauen pflegen sehr viel mehr soziale Kontakte, sei es im Freundeskreis oder in der Familie. Sie haben ein ganz anderes Wertesystem. Man sollte als Mann mal darüber nachdenken, warum man es nicht schafft, ohne Arbeit durch die Welt zu latschen.



Sie haben fast völlig auf Filmmusik verzichtet. Lediglich der Chor setzt musikalische Akzente. Dafür ist im Presseheft der Text von John Lennons "Nobody Knows You (When You're Down And Out)" abgedruckt. Warum?

Ich mag diesen Song sehr, weil er auch vom Absturz erzählt. Außerdem habe ich darin zum ersten Mal das englische Idiom "cloud nine" gehört, das "im siebenten Himmel sein" bedeutet. Wir hatten zuerst andere Arbeitstitel, aber "Wolke 9" drückt sowohl die Größe des Gefühls als auch die größere Fallhöhe aus. Ansonsten konnte ich mir einfach keine Musik für diesen Film vorstellen.



Sie haben in Cannes für Ihren Film Standing Ovations geerntet. Wie haben Sie das erlebt?

Ich war überhaupt zum ersten Mal in Cannes, wusste vorher gar nicht so richtig, was dort abgeht. Als ich ankam, war ich schon ein bisschen geschockt. Ganz so jahrmarktsmäßig hatte ich es mir nicht vorgestellt. Natürlich gibt es da normale, nette Leute, aber man sieht dort auch viel Künstlichkeit. Ein bisschen bizarr ist das schon. Die Stimmung in den Kinos steht dazu in Kontrast. Die Reaktion der Leute auf den Film war fast euphorisch. Wir hatten vorher Angst, dass sie vielleicht lachen oder rausgehen. Der Film war vorher ja noch nie gelaufen. Die Freude war umso größer, dass es so herzlich war. Das hat mich besonders für die Schauspieler gefreut. Gegen Ende eines Berufslebens muss so etwas ein wunderbares Erlebnis sein.



Wie gern mögen Sie denn den roten Teppich?

Wir liefen in der Reihe "Un Certain Regard". Da ist der Teppich ja viel kleiner als beim Wettbewerb, und außerdem kannte uns dort ja niemand. Ich gehe ohnehin nicht gern über rote Teppiche, das finde ich immer etwas albern. Aber die Leute mögen das halt, und es gehört auch zum Kino dazu, dieses Glamouröse, was es ja gar nicht hat, wenn man das aus der Innenansicht kennt. Aber das muss man ja nicht verraten.



Kommen Sie bei Ihren eigenen Premieren um den Teppich herum?

Bei meiner allerersten Berlinale mussten wir zur Uraufführung von "Nachtgestalten" mit einer dicken Limousine fahren. Sie fuhr vom Hotel Interconti zum Zoo-Palast, das sind etwa 400 Meter. Ich fand das total affig, weil man im Berufsverkehr dreimal so lange brauchte, als wenn man zu Fuß gegangen wäre. Aber ich habe das mit Humor genommen und versucht, mich dabei von außen zu betrachten. Wenn man früher in der Schule aufgeregt war, hat man sich gesagt: Stell dir die Lehrer in Unterhose vor. Das sollte man mit den Leuten auf roten Teppichen auch mal versuchen.



Am Freitag, den 29. August, stellt Andreas Dresen "Wolke 9" um 20 Uhr im Abaton vor. Am 4. September kommt der Film regulär in die Kinos.