Junge Frauen wollen heute vor allem eins: vorwärts kommen. Und sie tun es auch, vielleicht mehr als noch vor 30 Jahren. Doch gleich sind sie deshalb noch lange nicht. Die Grenzen, die ihnen die Gesellschaft auferlegt, haben sich nur ein wenig verschoben. Für ihre Räume müssen sie weiter kämpfen, wie der Besuch im Mädchentreff im Schanzenviertel zeigt.

Viel Raum hat Andreia nicht zur Verfügung. Nicht zu Hause, wo sie sich ein Zimmer mit ihrer kleinen Schwester teilt. Nicht für ihren Traum, einmal Tanzlehrerin zu werden. Und auch nicht bei ihrer nächsten Aufgabe für die Tanzschule: Eine Choreografie für einen begrenzten Raum zu entwerfen und vor den Lehrern zu präsentieren. "Wir müssen den Raum auf den Boden aufmalen, und den Tanz darin aufführen", sagt die 19-Jährige. "Ich habe mich für die Form eines Sterns entschieden. Beim Tanzen darf ich seine Grenzen nicht überschreiten."

Dabei sei das ein Thema vieler junger Frauen und Mädchen heute: Grenzen überschreiten. "Einerseits wollen sie ihren eigenen Weg gehen, andererseits stehen sie unter dem Druck, ihrer Rolle als Mitläuferinnen und Sozialschmiererinnen gerecht zu werden", sagt Heike Rupp (51). Sie ist eine, die es wissen muss. Jeden Tag hört sie sich im "Mädchentreff" an der Bartelsstraße die Wünsche und Probleme von Mädchen und jungen Frauen zwischen acht und 27 Jahren an, die hierher kommen, weil sie anderswo keinen Raum für sich haben. Weil sie die vertrauliche und gemütliche Wohnzimmer-Atmosphäre mit den Sofas und den Regalen voller Bücher und Zeitschriften schätzen. Den Garten hinter dem Haus, in dem sie Sommerfeste feiern. Oder die Küche, in der sie regelmäßig gemeinsam kochen. Rupp kennt die Geschichten aller Mädchen, die im Mädchentreff ein und aus gehen. Sie liegen ihr am Herzen, genauso wie die Emanzipation, "bei der es auch heute noch viele Baustellen gibt", sagt sie. Ende der 70er-Jahre ging sie mit Mitstreiterinnen gegen den Paragrafen 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte, auf die Straße, demonstrierte, studierte Sozial- pädagogik, um Frauen zu helfen, stritt im Jugendhilfeausschuss des Bezirks Mitte für mehr Förderung von Frauenprojekten. Oft allein und nicht immer mit Erfolg. "Anfang der 90er-Jahre war Hamburg noch führend in der Frauen- und Mädchenpolitik. Heute sind wir das einzige Bundesland, das keine Gleichstellungsstelle hat", sagt sie. Sie ist eine Feministin der alten Schule, aber ohne verbittert zu sein. Im Gegenteil. Ihr Kampfeswille scheint ungebrochen, positiv.

Denn Rupp hat auch Erfolge. Hier, im Mädchentreff Schanzenviertel. Seit 16 Jahren gibt es den Verein, zunächst mit nur einer vom Bezirk geförderten Stelle. Ihrer. 1998 kam nach langem Hin und Her im Jugendhilfeausschuss des Bezirksamts Mitte eine halbe dazu. Lücken werden mit Honorarkräften geschlossen. Das bedeutet mehr als vollen Einsatz für Rupps Team, das Mädchen berät und begleitet, die wenig oder keine Unterstützung von ihren Eltern oder Lehrern erhalten - aus mangelndem Interesse oder zu wenig Einblick in die heutige Lebenswelt junger Frauen, aufgrund anderer Wertvorstellungen oder schlichtweg Unkenntnis des Bildungssystems. Mädchen, die in der Masse untergehen.

Mädchen wie Andreia, die sich vornahm, Abitur zu machen, aber eigentlich immer den Wunsch hatte zu tanzen. Irgendwann in der 11. Klasse wurden der Erfolgsdruck in der Schule und die Last, nicht das zu machen, was ihr wirklich lag, zu groß. Sie brach die Schule ab. "Heike hat mir immer geraten, bei meiner Berufswahl nur auf mich selbst zu hören, meine Entscheidungen aber konsequent zu verfolgen. Wir haben zusammen überlegt, wie es weitergeht", sagt sie. Schließlich hat es mit der Bewerbung in der Tanzschule geklappt. Seitdem ist der Stress für die junge Frau nicht weniger geworden: Unter der Woche geht sie zur Schule und trainiert täglich. Am Wochenende arbeitet sie als Kellnerin beim Musical "König der Löwen", um die Privatschule zu finanzieren. Aber Andreia hat gelernt, selbstbewusst mit der Belastung umzugehen. "Der Mädchentreff hat mir dabei sehr geholfen. Es tut gut, hierher zu kommen und sich austauschen zu können. Hier kann man sich erholen."

Erholen - vom Alltag, von der Schule, von wichtigen Entscheidungen, von zu Hause, den Eltern und Jungs, die hier absolutes Eintrittsverbot haben. Viele Mädchen schätzen dieses zweite Wohnzimmer, in dem sie unter sich sind, Luft zum Durchatmen haben. Zum Innehalten. Und vor allem Raum. Ihren eigenen. Um in Ruhe Hausaufgaben zu machen, nachzudenken, zu lesen oder sich einfach zu unterhalten. Keine Selbstverständlichkeit für junge Frauen heute, die oft viele Aufgaben parallel bewältigen müssen.

So wie Gezenay (Name geändert) , die Mutter, Frau und Schülerin zugleich ist. Mit 18 entschied sie sich, mit den Eltern zu brechen, die Schule sausen zu lassen und ihren Freund zu heiraten, den sie nur ein halbes Jahr kannte. Sie zog mit ihm in die Türkei, wurde schwanger und merkte bald, dass sie mit dem Mann nicht glücklich war. "Es trat ein, was meine Eltern prophezeit hatten", sagt die heute 23-Jährige. "Aber ich habe alle Entscheidungen selbst getroffen, ob sie im Nachhinein gut waren oder nicht." Jetzt helfen die Eltern bei der Erziehung des Sohnes mit, die Scheidung läuft ebenso wie die Karriere. Gezenay holte das Abitur nach und fing an zu studieren. Ihre Anlaufstelle für Hausaufgaben, Prüfungs- und Referatsvorbereitungen: der Mädchentreff. Sie führt nun ein anderes Leben, auch wenn die Unterschiede in den Ansichten zu den Eltern geblieben sind. "Ich hänge an meiner Familie, deshalb akzeptiere ich ihre Werte. Aber ich lebe gleichzeitig meine eigenen."

Eigene Vorstellungen, Entscheidungen und Chancengleichheit - es sind die alten Fragen der Emanzipation, die auch heute die "neuen" Mädchen beschäftigen. Aber oft kämpfen sie nicht so dafür wie es Rupps Generation getan hat, sie rebellieren nicht, ecken nicht an. Das wird auch an den Mädchen im Treff deutlich. Ivana (Name geändert), ein große, selbstbewusste, junge Frau mit St.-Pauli-Pulli erzählt, dass sie und ihre Schwester nicht die gleichen Rechte in der Familie haben wie der ältere Bruder. "Der darf alles und wir nichts. Er wurde von unseren Eltern in der Schule gefördert und zum Studieren motiviert - wir nicht. Aber was können wir schon dagegen tun? Trotzdem mache ich mein Ding", sagt sie. Ohne zu diskutieren. Oder zu kämpfen.

"Ich habe das Gefühl, es gibt heutzutage einen Rückschlag in der Gleichberechtigung", sagt Rupp. "Die Mädchen und jungen Frauen sind heute weniger politisch als wir es einmal waren, weil alles erreicht scheint. Wer traut sich denn heute noch, das Wort 'Feminismus' in den Mund zu nehmen? Heute sind wieder mehr die traditionellen Werte und Rollenbilder auf dem Vormarsch - und das macht mir Angst", sagt Heike Rupp. In einem Artikel für die Zeitschrift "Standpunkt: sozial" der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, der anlässlich des Weltfrauentages veröffentlicht wird, schreibt die politisch engagierte Frau: "Unsere Ziele und Aufgaben sind heute wie vor rund dreißig Jahren ähnliche." Sie meint, die Probleme von damals bestehen teilweise auch heute noch. "Mädchen kommen doch in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vor! Und wenn, dann entweder als skandalträchtige Schlägerinnen oder als 'Alpha-Mädchen', die es trotz Fleiß nie in die Chefetagen schaffen werden."

Vielleicht wird das auch Bengül (21) und Sonia (25) so ergehen. Beide sind sehr ehrgeizig und wollen etwas erreichen. Bengül hofft auf einen Studienplatz als Arbeitsmarktmanagerin, Sonia hat gerade ein Studium zur Immobilienökonomin begonnen. Erstes Semester. Ein Abendstudium. Tagsüber arbeitet sie als Immobilienkauffrau und ist verantwortlich für 40 Objekte. An den Wochenenden lernt sie. Gerade hat sie ihre erste Prüfung mit Note 1,3 abgelegt. Für sie ist dieser Einsatz nichts Ungewöhnliches: "Natürlich möchte ich in meiner Karriere vorankommen, deshalb das Studium. Wir Frauen müssen nun einmal besser sein als Männer, um bei Arbeit und Gehalt gleichauf zu sein." Das sei für Frauen doch ganz normal.

Ganz normal. Um einmal diese "durchschnittlichen" Mädchen ins Bewusstsein zu rücken, hat die Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik im vergangenen Jahr das Projekt "Mädchen in Sicht" in Hamburg gestartet. Mit Plakaten in der ganzen Stadt wurde auf die Stärken, Wünsche und Potenziale der "durchschnittlichen" Mädchen aufmerksam gemacht. Jetzt soll die Aktion auf ganz Deutschland ausgeweitet werden.

Im Mädchentreff hängen diese Plakate noch immer am großen Panoramafenster zur Bartelsstraße hin. Ein bisschen wie ein Mahnmal. Auf jeden Fall eine gute Erinnerung daran, dass es sie auch 2009 noch gibt, die ganz normalen Mädchen mit ganz normalen Träumen und Wünschen. Die an einem Tag noch alles hinschmeißen, am nächsten aber wieder Ärztinnen, Topmodels, Feuerwehrfrauen oder Psychologinnen werden wollen.

Wie Gamze (18), deren Mutter ihr immer beigebracht hat, wie wichtig es sei, auf eigenen Füßen zu stehen. "Meine Mutter durfte die Schule nur bis zur fünften Klasse besuchen. Danach hat es ihr mein Opa verboten. Deshalb kann sie mir mit Schulsachen nicht helfen", sagt die junge Frau. Helfen können aber die älteren Besucherinnen im Mädchentreff. Sie waren einmal kleine Mädchen aus dem Viertel, die Hilfe bei den Hausaufgaben suchten, und sind heute selbstständige Frauen, die schon eigene Kinder haben. Geblieben ist die Bindung an den Mädchentreff. "Es hilft sehr, mit den Älteren zu sprechen und von ihren Erfahrungen zu lernen", sagt Gamze. Es helfe, solche Vorbilder zu haben, mit denn man seine Pläne besprechen könne.

Und den nötigen Raum, um sie zu verwirklichen.