Heike Gätjen traf in der Kammeroper den TV-Psychologen Michael Thiel. In vieler Hinsicht ein Schwergewicht.

Hamburg. Michael Thiel ist ein Schwergewicht: Als TV-Psychologe, als Gesprächspartner und - als Hedonist - auch im eigentlichen Wortsinne. Heike Gätjen trifft ihn in der Kammeroper. Seines alten Traumes wegen. Der schon wieder, stöhnten Kritiker, als er vor Kurzem im ZDF dabei war. Bei Markus Lanz, der Kernervertretung. Als wenn es keinen anderen Psychologen gebe, hieß es. Als ihn. Den Mann mit dem Rauschebart, der breitflächigen Statur, der bodenständigen, fremdwortfreien Redeweise. Er sei nun mal eben eine Rampensau, sagt er. Und stehe dazu. Michael Thiel. Ein Eintänzer, Paradiesvogel und gekonnter Selbstinszenierer auf allen Fernsehkanälen und in den Printmedien. Spezialist für die schwierigen Lebenslagen, dessen zweite Staffel von "Schluss mit Hotel Mama" im November auf Kabel 1 läuft. Und der gerade ein neues Buch geschrieben hat. Zusammen mit Ehefrau Annika. "Raus aus der Sackgasse". Lernen, sich aus verfahrenen Situationen zu befreien und wieder neu durchzustarten.

Was für eine geballte Ladung! Genug Gesprächsstoff für mehrere Stunden. Und irgendwie ein Gefühl, mittags auf die Couch gehen zu wollen. Ins Bistro der Kammeroper an der Allee. Denn da wartet er schon. Raumfüllend, gemütlich und redebereit. Ein Rollentausch, wie er findet. Jetzt fühle er sich mal wie auf der Couch. Also dann. Jemand, der das Leben der anderen in den Griff bekommt - wie läuft es denn so in seinem? Unordnung sei sein Knackpunkt, gesteht er. Diese verdammte Unordnung auf seinem Schreibtisch. An der könne man seinen Gemütszustand ablesen. Ein überlastetes, gestresstes Gehirn, ein zugemüllter Schreibtisch. So einfach sei das.

Die Töne aus dem Theatersaal nebenan werden lauter. Donizettis "Liebestrank" wird geprobt. Und plötzlich sind wir weg vom Thema Psyche. Hier im Theater hat er vor ein paar Jahren auf der Bühne gestanden. Als Räuber Hotzenplotz. War hingerissen, wie mucksmäuschenstill die Kleinen wurden, sobald der Vorhang aufging, und gerührt, als einer bei der Verhaftung des Hotzenplotz rief: "Tut ihm nichts, er ist doch so nett!"

Ja, sagt er, das sei die Sache mit den zwei Seelen in seiner Brust. Die Psyche und die Bühne. Schauspieler wollte er mal werden. Nahm Unterricht. Aber für seine Familie, in der er der erste war, der Abitur machte und studierte, war ein Psychologe schon exotisch genug. Trotzdem: Im Theater an der Marschnerstrasse war er mal der eingebildete Kranke. Hat im Ohnsorg-Theater vorgesprochen. Auf Plattdeutsch, der Sprache seiner Kindheit. Diese glückliche Kindheit in Bergedorf, den Vierlanden. Den ganzen Tag draußen sein, auf Bäumen herumkrabbeln. Frei und rundherum glücklich. Mit sechs kommt das abrupte Ende. Die Familie zieht in die Stadt. Autos. Kinder, die seine Sprache nicht verstehen, ihn verprügeln. Er ist kreuzunglücklich, wird zum ersten Mal dick.

Die Sache mit der Bühne, sagt er. Das sei die Neugier, sich selber zu entdecken, auszuprobieren, in einer anderen Rolle völlig aufzugehen, die Sau mal richtig rauszulassen. Pause. Und Psychologie habe ja auch eine Menge davon. Rollenspiele. Spieltherapie.

Wir springen ein bisschen hin und her. Dass er die Statur eines Pavarotti habe, aber nicht singen könne. Dass er ein therapeutischer Optimist sei. Dass Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen ihn erkennen, "aus dem Fernsehen", sich ihre Lebensgeschichte vom Hals reden oder total verstummen, seinem Blick ausweichen, aus Angst, er könnte in ihre Seele blicken.

Das Fernsehen. Der Anfang. Ein Aufruf im Hamburger Abendblatt. Für "Gespräche zur Nacht" suchte der NDR einen Psychologen. Er geht zum Casting. Und die wollten ihn. Ihn, den Thiel. Seitdem tanzt er auf vielen Hochzeiten. Ist omnipräsent auf allen Kanälen. Mit dieser wunderbaren Nebenwirkung, sagt er. Leute sehen, dass Psychologie was ganz Normales ist. Ganz normale Leute. Nicht nur die Eppendorfer, die schon längst auf die Couch gehen.

Wir schleichen uns in den Theatersaal. Hören den Proben zu. Der herzzerreißenden Arie "Una furtiva lagrima" - eine verstohlene Träne. Flüstern miteinander. Aber ja, sagt er. Ihre Fotophobie, Frau Gätjen, kriegen wir auch in den Griff. Sie müssen einfach lernen, die Kamera zu mögen. Er gehöre zu den Menschen, die die Kamera lieben, mit ihr flirten. Aufblühen, sobald sie sich auf ihn richtet. Aber nicht von hinten, sagt er schnell. Da zeige sich die altersbedingte Schwerkraft, die dünner werdenden Haare. Er sei eben eine Diva!

Und ein Sonnboy auch. Nein, sagt er. Längst nicht immer. Er könne auch mal schweigen, still sitzen, über das Leben nachdenken. Am liebsten in dieser Fischerhütte in den Lofoten, in die sich seine Frau und er jedes Jahr für ein paar Wochen zurückziehen. Fischadler, Wale. Das schöne Gefühl, direkt im Meer zu sitzen. Lesen. Mankell und Larsson. Ein neues Projekt planen. Wie jetzt das Ärztecoaching. Für von Papierflut bedrängte und genervte Ärzte. Ja, darauf freue er sich.

Zurück im Bistro, werden gerade die Tische fürs Probeessen zum Opernmenue gedeckt. Wir bleiben bei seiner Lust am Essen hängen. Seiner Last mit dem Übergewicht. Er will zurück in Größe 56. Sein bevorzugter Herrenausstatter macht's nicht drüber. Jetzt sei er Größe 58. Der Presswurst gefährlich nahe. Aber ja, sagt er, ich bitte Sie, deshalb könne er doch trotzdem Kurse für Übergewichtige geben. Oder als Kinderloser über Erziehungsprobleme sprechen. Sie wissen schon, die Sache mit den Vögeln und dem Fliegen.

Wovon denn, um Gottes willen, versteht dieser Mann nichts? Fußball und Autos, sagt er schnell. Und Frauen? Aber ja, sagt er. Sie seien bewundernswert. Viel weiter in Beziehungskisten. Besser, reifer, aktiver. Wollen verändern. Richtige Beziehungsarbeiter. Männer, sagt er, sitzen Probleme aus, laufen am liebsten vor ihnen davon. Was für ein Lob. Das erfreut doch. Und so trennen wir uns lachend. Beide haben dazugelernt. Beide haben ein bisschen auf der Couch gesessen. Auch wenn es rotgoldene Theaterstühle waren.

Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Immer freitags im Lokalteil.