Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Knut Fleckenstein, SPD-Europaabgeordneter.

Hamburg. Es hat sich ausplakatiert. In der Stadt. Endlich. Die nahtlos ineinander übergehenden Wahlen sind vorbei. Und bei ihm als SPDler hat es - anders als bei der gerade gelaufenen Bundestagswahl - sogar geklappt. Vor ein paar Wochen schon. Knut Fleckenstein ist ins Europäische Parlament eingezogen. Wurde gerade ordentliches Mitglied im Verkehrsausschuss, stellvertretendes Mitglied im Kulturausschuss und Vorsitzender der 30-köpfigen europäischen Russland-Delegation. Und könnte höchst zufrieden sein. Wenn, ja wenn die allgemeine Wahlmüdigkeit nicht auch in Hamburg bei der Europawahl durchgeschlagen hätte. Es war mit 34,7 Prozent die zweitschlechteste Wahlbeteiligung in Deutschland.

Das ärgert ihn immer noch. An diesem heiteren, sonnigen Nachmittag an der Alster. Ein Zeichen dafür, sagt er, dass die Europawahl die Leute auf der Straße zu wenig interessiere. Und das müsse anders werden. Dringend. Und mit seiner Hilfe, hoffe er. Europapolitik sei für ihn immer auch Friedenspolitik. Ginge jeden was an. Auch und gerade in Hamburg. Hier, wo es darum ginge, dass Kapazitätserweiterungen im Hafen in bestimmte Richtungen gehen müssten und nicht irgendeine Brüsseler Tochter einer Shanghaier Firma, die am meisten Geld bietet, den Zuschlag bekäme. Und ganz sicher ginge es auch um mehr als die viel belächelte Krümmung der Salatgurke, die immer wieder gerne genannt wird. Wobei man nicht mal wüsste, dass der deutsche Landwirtschaftsminister es gewesen sei, der jahrelang verhindert habe, dass dieser Irrsinn endlich gestrichen werde. Pause. Luft holen. Europapolitik im Schnelldurchlauf.

Knut Fleckenstein kann so was gut. Er ist ein gefälliger Mann. Freundlich, umgänglich, höflich und so lange schon vielseitig in den verschiedensten Ämtern im Einsatz wie ein Jörg Pilawa der politischen Szene. Nö, sagt er. Wie kommen Sie auf so was. Sortiert sich kurz. Hängt seinen dunkelblauen Blazer mit den Goldknöpfen über die Stuhllehne, schlägt die Manschetten seines Hemdes sorgfältig um. Bestellt sich eine Apfelschorle. Hier auf der Terrasse des NRV an der Schönen Aussicht. Die freundliche Kellnerin fragt nach der Mitgliedsnummer. Wegen der Zeche. Wir haben beide keine. Und nein, es nützt auch nichts, dass wir Mitglieder kennen. Sie müssten schon mit am Tisch sitzen. Dann bekommen wir ein Stockwerk höher netterweise doch noch die aller-aller-einzige und nur für diesen einen Nachmittag geltende Ausnahmegenehmigung. Dürfen bleiben. Und den kleinen Jungs in ihren roten Rettungswesten zugucken, die weiter links von uns mit ihren Optis auf der Alster das Kentern üben. Unser Juso-Nachwuchs, rein farblich gesehen, sagt Knut Fleckenstein lachend. Weiß nicht, wie nahe er der Realität kommt. Denn dieses Gespräch fand noch vor der Bundestagswahl statt.

Also, Knut Fleckenstein nun. Politikfrei. Der heiter über seine schon seit Jahrzehnten bestehende und höchst konservative Liebe zum hanseatischen Blazer plaudert. Und seinen Klassenlehrer Jürgen Werner, der als so pingelig galt, dass man ihm nachsagte, er würde sogar seinen Trainingsanzug auf dem Bügel mit in die Schule bringen. Dieser Mann also trug auch einen solchen Blazer. Und, sagt Knut Fleckenstein, ich mochte ihn und den Blazer. Und fühle sich darin nie overdressed.

Er verbirgt sich gut, dieser Mann. Gibt keine Ecke und Kante preis. Ja, sagt er, das hätten Sie wohl gern. Er habe so was nicht. Auch keine Ellenbogen mit Sägeblättern. Die seien sowieso zu nichts nütze. Und schon gar nicht, wenn man sich jetzt in Brüssel für alles Bündnispartner suchen müsste. Er sei außerdem gelassener geworden. Habe sich früher sicher mehr echauffiert. War sogar mal dicht dran, aus der SPD auszutreten. Damals als La Fontaine sich zum Bundesvorsitzenden der SPD geputscht habe. Er konnte diesen Mann eh nie leiden. Fand nichts an ihm außer seiner brillanten Rhetorik.

Das war fast schon zu viel an Deutlichkeit. Wir bestellen noch eine Apfelschorle. Der ehemalige Michel Hauptpastor Helge Adolphsen grüßt und eilt zügig weiter zu einer Altherrenrunde am Nebentisch. Eigentlich, sagt Knut Fleckenstein, wollte er mal Theologie studieren. Damals, kurz vorm Abi. Mochte es den Mitschülern nicht sagen. "Die waren gerade alle in kommunistischen Grundsatzdiskussionen verhakt und hätten sich darüber totgelacht." Gab den Gedanken auf, weil er sich einfach nicht als Pastor sah. Kurze Zeit danach tritt er in die SPD ein. Wieso das bleibt im Raum stehen, weil plötzlich die Frage auftaucht, was denn wohl ein Gutmensch sei und ob er denn ... Nein, sagt er, wegen meines langjährigen Einsatzes beim Arbeiter-Samariter-Bund meinen Sie? Das sei, sagt er, während des kalten Hungerwinters Ende der 80er-Jahre in St. Petersburg so gekommen. Die Paketaktion auf dem Hamburger Rathausmarkt. Seine Hilfe. Und danach die Frage, ob er nicht ehrenamtlich im Landesvorstand des ASB mitarbeiten wolle. Ja, und dann habe er den finanziell maroden Verein sanieren geholfen, sei Geschäftsführer geworden. Und bleibe es bis Ende dieses Jahres noch. Halt. Um den Gutmensch ging es doch. Also, sagt er zögernd. Gutmensch ... das klinge immer so ... habe wenig mit dem Verstand zu tun. Die Landespastorin Annegret Stoltenberg habe mal gesagt, das sei ein blödes Wort. Heiße für sie so was wie, mit dem kann man alles machen ... ein lieber Dussel ... ein Dummerchen. Aber es sei schon so. Er sei ausgesprochen harmoniebedürftig. Gebe sich große Mühe, niemanden zu verletzen. Setze seine Ziele konsequent durch. Ohne kaltschnäuzig zu sein.

Bei Kurt Fleckenstein verliert man schnell den Faden. Er erzählt gerne. Mit dieser sonoren Stimme, von der er selbst lachend sagt, sie sei eigentlich das Sexieste an ihm. Und na ja, sagt er dann. Gut aussehend sei er auch. Gewesen. Früher einmal.

Er erzählt, dass er gleich nach dem Abi mit dem Ensemble des Ernst-Deutsch-Theaters auf Tournee gehen wollte. Nicht im Ernst? Doch, sagt er lachend. Eine Statistenrolle. Mit diesem einen Satz: Der Papst ist tot. Wie das Stück hieß? Keine Ahnung. Es wurde nichts. Er beginnt eine Banklehre. Studiert danach Jura. Und ja, sagt Knut Fleckenstein, das sei sicher ein Fehler gewesen. Drei Jahre Jura. Und dabei von Anfang gewusst zu haben, es sei nichts für ihn und doch den Ausstieg so lange rauszuzögern.

Er erzählt von der Nacht im Zweimannzelt, jetzt gerade, mit der Tochter im Garten. Ein endlich eingelöstes Versprechen. Das Zelt aus dem Supermarkt. Und klar, allein aufgebaut. Er sei schließlich Pfadfinder gewesen. Sogar Stammesführer. Am Aufbauen eines Ikea-Schranks allerdings scheitere er. Würde früh erkennen, dass das so nicht ginge. Wisse nur nicht, wie es besser sei. Und das wisse seine Frau. Und dann wäre er da, der Ehekrach.

Und irgendwann einmal, mit 65 vielleicht, möchte er den Nachlass seines Vaters aufarbeiten. Tagebücher, die gesammelte Post aus der Kriegsgefangenschaft, die Briefe des deutschnationalen Großvaters an seinen Enkel. Er wisse schon, dass das keinen anderen Menschen interessiere. Aber für ihn sei es wahnsinnig spannend, wie jemand aus einem satten deutschnationalen Elternhaus, mit einem Großvater, der sich eher die Hand hätte abhacken lassen, als den Hitlergruß zu machen, so in die Nazizeit reinwachsen konnte.

Wir schaffen noch einen Kaffee und eine Apfelschorle. Und die nächste Mannschaft der kleinen Kenterer. Landen kurz noch bei seinen großen Vorbildern in der Politik. Helmut Schmidt. Willy Brandt. Herbert Wehner. Und Alfons Pawelczyk, der ehemalige Zweite Hamburger Bürgermeister, dessen Pressechef und Büroleiter Knut Fleckenstein war. Der einzige Mensch, der immer berechenbar sei. Ohne Rücksicht auf Verluste. Gradlinig und klar. Und wenn er selber einen Rat brauche, rufe er ihn an. Wohl wissend, dass er die Wahrheit zu hören bekomme. Auch wenn sie schmerzhaft sei.

Und dann ist langsam Schluss. Knut Fleckenstein verspricht, dass er bei seinem nächsten Stopp zwischen Brüssel und Hamburg ein paar Ecken und Kanten für mich parat habe. In echt. Vielleicht sogar ein Laster. Nur heute sei es dafür einfach zu schön und sonnig an der Alster gewesen.