Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Carolin Beyer, Malerin

Was für ein buntes Bild! Nein, nicht das, vor dem wir gerade stehen. Hier in der Ausstellung "Paare und andere Individualisten in Hamburg" in der Handelskammer. Sondern das, was sie gerade vor wenigen Minuten lachend in die Luft gemalt hat: Sie selbst auf dem Flughafen. Mit ihrer erst wenige Wochen alten Tochter in einem Tuch vor dem Bauch. Und einem Rucksack auf dem Rücken. Mit Katze und Schildkröte drin auf dem Weg nach Mallorca. Eine schräge Mischung und ein bisschen verrückt sei das schon gewesen, sagt sie dann ernsthaft. Carolin Beyer, Malerin.

Die Frau mit dem Röntgenblick, mit dem sie Schicht um Schicht bloßlegt, in die Seele der Menschen hineinkrabbelt und das Ergebnis auf die Leinwand bannt. Von so unglaublicher Eindringlichkeit, dass manchmal sogar die Porträtierten leicht erschrecken. Frauen mehr als Männer, sagt sie. Denn Männer seien schmerzfreier. Stünden ihrem Spiegelbild meist neutraler gegenüber. Fühlen sich höchstens mal leicht ertappt, wenn die Malerin mit einem Augenzwinkern, die zu nachlässig kurze Socke zeigt, die einen Blick auf die nackte Wade des Porträtierten freigibt.

Ach, sagt sie, sie könnte zu jedem Bild eine Geschichte erzählen. Und so bleiben wir immer wieder stehen, sprechen über die Porträtierten wie Weihbischof Jaschke, Roger Willemsen, den Vizepräses der Handelskammer Dr. Dreyer, und über Carolin Beyers Zugang zu ihnen. Diese Spurensicherung, wie sie es nennt. Und über sie selbst natürlich auch.

Sie sagt, dass sie immer ein Stück neben sich stehe. Sich immer zugucke. Sich nur beim Malen vergessen könne. Ganz darin versinke. Ihre Berufung, denn ein Job sei das ganz sicher nicht. Auch wenn sie davon leben könne, seitdem das Hamburger Abendblatt sie auf seiner Kunsttreppe im Hanseviertel 1998 vorstellte. Ein Sprungbrett, sagt sie. Das ihr einen ordentlichen Schub gegeben habe. Viele in Auftrag gegebene Porträts, die sie Pflicht nennt. Die extra für diese Ausstellung gemalten Einzel- und Doppelporträts - ihre Kür. Das des nigerianischen Königs von Yoruba war erst einen Tag vor der Geburt ihrer Tochter, der kleinen Fritzimarie, fertig. Genau: Die Kleine, die dann zusammen mit Schildkröte Otto und Katze Shiri auf dem Weg nach Mallorca war.

Eine Soldatenmalerin sei sie. Frei nach dem Leipziger Künstlerkollegen Neo Rauch. Das Preußische in ihr, das mit großer Disziplin einmal Begonnenes durchziehe. Geprägt von der aus Potsdam stammenden Mutter, die auch malt und ihr schon als ganz kleines Mädchen den ersten ... Halt! Da muss jetzt mal eine Struktur rein. In unser Gespräch. Oder nicht? Doch, sagt sie, aber erst müsse sie mir noch was von diesem Mann hier erzählen, vor dessen Bild wir gerade stehen. Ihrem Feldenkraislehrer. Diese absolut tolle Methode, mit sich selbst und dem eigenen Körper in Einklang zu kommen. Und wie "bescheuert" sie sich vorkam, beim ersten Mal, so auf und ab gehen zu müssen. Sie konnte doch gehen! Sich danach neu sortieren musste, weil sie völlig diffus war. Alles wie ein Baby neu erlernen musste. Auch richtiges Gehen. Bewusstsein durch Bewegung - einfach toll! sagt sie. Machen Sie das auch mal. Am besten bei diesem gut aussehenden Mann hier.

Wir gehen an ihrem Klempnermeister vorbei. Einem Mann mit spannend vielen Gesichtern, sagt sie, und all den anderen, weniger prominenten und prominenten, die ihren Lebensweg begleitet haben. Bis zurück zur Teeküche, wo unsere Mäntel und Taschen liegen. Und kommen dabei auch an ihrem Vater vorbei, dem Neurologen und Psychiater Ludwig Beyer, den sie nach seinem Tod 1991 zu malen begann und der sie entscheidend geprägt hat. Ein Mann mit amüsiert-wissendem Blick irgendwie. Ja, sagt sie, er wusste bei jedem neuen Freund immer genau, ob es wohl passen würde. Und lag immer richtig. Ein Dickkopf wie sie sei er gewesen und ein Platzhirsch. Auch wie sie. Das mag man kaum glauben, bei dieser Frau mit der klaren leisen Stimme und dem großem irgendwie auch innerlich heiteren Ernst.

Dann stehen wir vor dem Gästebuch, vor Sätzen wie "Cooles Design", wundern uns ein bisschen darüber und haben ihr Selbstporträt im Blick. Fühlen uns irgendwie taxiert. Ich zumindest. Ja, sagt sie, die Leute würden immer sagen, sie gucke so intensiv. Sie selbst könne das gar nicht beurteilen. Sie sehe sich ja nicht live. Ein Problem bei Selbstporträts.

Dieses sich ständig im Visier haben, diese Suche nach der eigentlichen Seele auch im Anderen ist ihr von Kindheit an vertraut. In der großen alten Familienvilla in Harvestehude hatte der Vater auch seine Praxis. Am Mittagstisch ist viel die Rede von Menschen und ihren Problemen. Komplizierte Seelen. Ein Dauerthema. Das hat sie nie wieder ganz losgelassen. Die kleine Carolin malt schon, sobald sie einen Stift halten kann. Alles, was ihr ins Auge fällt, inspiriert von der Mutter, einer Malerin. Sie geht auf Spurensuche, malt Tiere, vor allem Vögel, führt akribisch Buch über deren Verhaltensweisen. Bewirbt sich mit zehn Jahren bei der Ornithologischen Gesellschaft in Berlin. Das Bewerbungsschreiben ordentlich mit einem Finger in die Schreibmaschine getippt. Die Ablehnung findet sie unmöglich. Sie sei zu jung.

Bei Familienwanderungen haben Mutter und Tochter immer ihre Malutensilien dabei. Der Vater streicht ungeduldig um die beiden herum, wenn es ihm zu lange dauert. Er hatte mehr Sinn für die Musik, wollte eigentlich Orgelbauer werden. Ein Haus voller Individualisten, sagt Carolin Beyer. Jeder "brödelt" in seinem Zimmer vor sich hin. Man trifft sich nur zum gemeinsamen Mittagessen, zum Spazierengehen oder zum Kirchgang. Erziehung an der langen Leine. Trotzdem: als Carolin Beyer nach dem Abitur Malerin werden will, schlagen ihre Eltern die Hände überm Kopf zusammen. Sie geht nach Rom, um Italienisch zu lernen, hangelt sich zu einem Kompromiss durch. Modedesign. Verständlicher für die Eltern. Mit genug Malerei für sie drin. Zähneknirschend macht sie eine dreijährige Schneiderlehre. Ihren Militärdienst, nennt sie es, im Nachhinein. Bewirbt sich an der Armgartstraße, belegt parallel zu den Urfächern Zeichnen und Malen noch Kommunikationslehre. Und dann endlich: Geschafft, sagt sie fast atemlos. Diesen wunderbaren Machberuf. Was? Na ja, sagt sie, sie mache doch Bilder. Und das fresse sie mit Haut und Haaren auf. Jedes Bild ein Neuanfang. Immer wieder zurück auf Null.

Carolin Beyer ist eine erstaunliche Frau. Die nicht leichtfertig Antworten gibt, sondern immer auch um die richtigen Worte ringt. Künstler. Dieser Klischeeberuf, sagt sie. Launenhaftigkeit werde ihm nachgesagt, auch wahnsinnige Arroganz, diese inneren Unstimmigkeiten an anderen auszulassen. Dagegen kämpfe sie vehement an. Schwierig als Skorpion. Glücklicherweise sei ihr Aszendent Wassermann. Gut zum Ausbügeln der negativen Seiten. Und trotzdem, sagt sie, Künstler seien nun mal ichzentriert, der Beruf erziehe zum Egoismus. Man dürfe nur keine Zumutung für seine Umwelt werden. Das sei ihre tägliche Herausforderung. Seit Juni hat sie eine wunderbare Hilfe. Die kleine Fritzimarie, die jetzt ihren Lebensrhythmus neu bestimme und Kraftquelle und Motivation in einem sei. Pause.

Und dann reden wir noch ein bisschen über ihr Elternhaus. Ein Backsteinhaus mit wunderbaren Schwingungen. Ihr Kokon, ihre Fluchtburg, sagt sie. Alle leben drin: Die Mutter mit ihrem Atelier, der Bruder unterm "Dächle", Carolin Beyer mit ihrer amüsanten, von ihr selbst gehassten Zahnlücke und ihrem Atelier, das genau 104 Jahre nach dem Bau des Hauses geborene Baby Fritzimarie mit dem kupferroten Haar. Eine namenlose chinesische Nachtigall, Otto, die so archaisch anmutende Schildkröte, die Katze Shiri. Eine Szene wie aus einem Bilderbuch.

Und das passt. Denn eigentlich ist sie auch ein bisschen verspielt und verträumt, diese Frau mit dem Seelen-TÜV-Blick.