Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Reiner Brüggestrat, Vorstandssprecher der Hamburger Volksbank.

Er will einfach nicht raus aus dem Kopf. Dieser Satz: "Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung". Der Titel eines Buches aus den Sechzigerjahren. Geschrieben von einem britischen Autor, der lange Jahre Bankangestellter war. In ruhigeren Zeiten. Und die Frage brennt mir auf der Zunge, ob seine Welt denn heute noch in Ordnung ist. So als Banker. Mittendrin im Schlamassel eines völlig aus den Fugen geratenen globalen Finanzsystems. Dr. Reiner Brüggestrat, Vorstandssprecher der Hamburger Volksbank. Die, wie er sagt, als Hamburger Genossenschaftsbank mit 100 000 Kunden in einer ganz anderen Liga spielt als Großbanken mit Millionen Kunden, die weltweit agieren und wichtiger sind für die Stabilisierung des Gesamtsystems. Und dass seine Bank genau wie die Sparkassen gerade einen erhöhten Zufluss an Kunden und Kapital habe, "weil die Leute wissen, dass wir ein sicherer Hafen sind".

So viel Eigenwerbung muss drin sein. Hier oben auf der Dachterrasse der ehemaligen Hamburger Börse in der Handelskammer am Adolphsplatz. Mit dem Rathaus im Rücken. Und dem überquellenden Aschenbecher einer anonymen Rauchergemeinde zu unseren Füßen. Er habe nie geraucht, sagt Reiner Brüggestrat. Das habe er seinem Großvater in die Hand versprechen müssen. Diesem bodenständigen Mann aus dem Ruhrpott, an dem er sehr hing, der Reval Filter rauchte und für den er als Junge an der "Bude" immer dieses scheußliche Kraut kaufte. Eine Familie, die den Strukturwandel im Ruhrgebiet widerspiegelt. Der Urgroßvater Bergmann, der Großvater Kohlenhändler, der Vater selbstständig im Baustoff- und Minerölhandel, er selbst abgewandert in den Dienstleistungsbereich.

Reiner Brüggestrat ist ein korrekter Mann. Der seine Sätze vorsichtig formuliert. Gern weit ausholt. Und gerade stockerkältet ist. Wir husten und niesen gemeinsam. Tauschen Papiertaschentücher, Hustenbonbons, die seine Sekretärin ihm heute morgen noch fürsorglich zugesteckt hat und sind uns einig, dass man sich bei einer Erkältung mies fühlt, aber auf wenig Mitleid stößt.

Im Restaurant "Börsenclub" gleich nebenan ist es ruhig. Bei Latte Macchiato und Leitungswasser klären wir endlich, wie es denn so ist mit seiner Welt morgens um sieben. Da sei sie in Ordnung. Seine private Welt. Draußen in Heimfeld. Mit Rehen im Garten und staksigen Kitzen, die die Rosen anknabbern. In Ordnung. Aber eher still. Eine Familie reiner Morgenmuffel, die ohne zu frühstücken den Tag angeht. In der Bank kurz vor acht beginnt diese Welt turbulent zu werden, sich professionell aufzumischen, wie er sagt. In den ganz heißen Tagen habe er natürlich abends vorm Schlafengehen noch mal Teletext geguckt. Und morgens früh auch wieder den Fernseher eingeschaltet. Jetzt sei ein bisschen Ruhe eingekehrt. Vielleicht auch nach der Erklärung von Angela Merkel, dass die Sparguthaben sicher seien? Das, sagt er, ist es, was die Leute brauchten. Jemanden, der sagt, wir stehen für eure Einlagen gerade. Personifiziertes Vertrauen. Stellungnahmen, Kommuniques, Aufklärung seien schon richtig. Aber das Tüpfelchen auf dem i sei nun mal das Persönliche. Denn das Vertrauen in Institutionen, in Banken, in die wirtschaftliche Elite, bei denen man sich Orientierung holen will, sei schon massiv beschädigt. Das gelte auch für sie. Begrenzt nur, aber immerhin. Bei ihnen stehe ja auch Bank drauf und Bank sei dann erst mal Bank.

Aber lassen wir das, sagt Reiner Brüggestrat. Sie wollten doch was über mich wissen. Den Menschen, oder? Ja. Also, bodenständig sei er. Nicht ohne Humor. Aber keine rheinische Frohnatur. Eher die westfälische Ausprägung. Mit Dickschädel, Hintergründigkeit, Zurückhaltung. Passend zum etwas spröden Hanseatischen. Auch die Schmelztiegelmentalität des Ruhrgebiets, diese Integrationsfähigkeit, korrespondiere mit der grundsätzlichen Weltoffenheit Hamburgs. Und deshalb sei er hier so gut zurechtgekommen. Nach der schweren Entscheidung, seinen "Sprengel" zu verlassen. Gegen den erheblichen Widerstand von Ehefrau, Sohn und Tochter. Da habe zum Schluss einer die Entscheidung treffen müssen, er trage jetzt auch die Verantwortung dafür, dass es für alle gut ausginge. Seine Frau, von der er sagt, dass sie rheinischer sei, so kommunikativ menschlich, habe das dann einfach als positiven Lebenseinschnitt angenommen.

Seit 26 Jahren sind sie verheiratet. Kennen sich aus der Studienzeit an der Uni Bochum. Dort hat er Blut geleckt fürs Bankwesen. Im studentischen Investmentclub. Gesponsert von der West LB mit einer realen Einlage von 50 000 Mark, mit denen sie Transaktionen an der Börse machten, immer das Ziel im Auge, mit dem geliehenen Geld pfleglich umzugehen, um der nächsten studentischen Gruppe was Ordentliches zu hinterlassen.

Von Verantwortung ist viel die Rede. Von Korrektheit und Gradlinigkeit. Langweilig, werden Sie sagen, meint er plötzlich. Dieser Lebensweg. Schule, Studium, Promotion. Über Liquiditätsprobleme ausgerechnet. Dazu kann ich Ihnen gleich noch eine Menge erzählen. Die Stelle seiner Frau im Finanzbereich. Er geht zur Sparkasse Essen. Die Kinder kommen. Aber da war auch dieser innere Impuls, mal was anders zu machen. Und dann sei Hamburg gekommen. Und das war's.

Kein Bruch? Nein. Kein Bedauern über verpasste Chancen? Nein. Da war mal dieses Angebot, nach Berlin zu gehen, 1989. In diese Stadt, die ihn schon als Student faszinierte. So pulsierend, voller Kontraste, weltstädtisch. Er aber habe sich für das Angebot vor der Haustür entschieden. Ein schüchternes Kind sei er gewesen. Sehr ruhig. Ein guter Schüler. Abiturnote 1,8. Er solle Arzt werden, findet der Vater. Ein Beruf mit hohem Renommee und viel Geld. Seine Großmutter findet Lehrer besser, "das ist was Sicheres". Er studiert Wirtschaftswissenschaften und Geschichte, seine große Leidenschaft. Das gäbe einem auch ein Stück Gelassenheit, sagt er. Wir seien immer gleich so ungeheuer aufgeregt. Das, was gerade passiert, sei immer der größte anzunehmende Unfall. Ein Blick in die Geschichte zeige da so ein paar Analogien, erlaube größere Zeitensprünge. Man müsse sich selbst vielleicht auch nicht mehr ganz so wichtig nehmen.

Im Ausland war Reiner Brüggestrat nie. Auch nicht während oder nach der Schulzeit. Das, formuliert er vorsichtig, sei in der soziologischen Schicht, aus der er komme, nicht so en vogue gewesen. Auch Tennis nicht und Eishockey. Oder ein Instrument spielen. Saxofon hätte er gern mal gelernt. Sie erkennen in mir den Jazzliebhaber, sagt er. Er hat es versucht. Seine Frau sagt, er sei total taktlos, kriege Töne raus, aber keinen Rhythmus rein. Wie beim Tanzen. Da habe er die Theorie drauf. "Aber es schwingt nicht so richtig."

Um uns herum hat sich ein Nest aus Nadelstreifenträgern gebildet. Wir rücken einfach ein bisschen zusammen. Husten gemeinsam weiter. Reden über seine Kinder. Sohn Julian, mit dem er im Garten ein Holztor gebaut hat für das regelmäßige gemeinsame Kicken. Und dass der Sohn den Vater im Tennis jetzt bald schlagen könne. Über die Chatrooms von Sohn und Tochter Sarah. Dass ihn das zuerst genervt habe. Als reine Zeitverschwendung. Und dass er das jetzt als Kommunikationsplattform für die Bank übernommen habe. Dass er gelernt habe zuzuhören. Beim gemeinsamen Essen. Und dass es auch bei ihm zu Hause in Bochum immer hoch hergegangen sei. Bei gemeinsamen Mahlzeiten. Mit allem Konfetti habe seine Frau angesichts der heftigen Diskussionen staunend gesagt. Irgendwie kommen wir plötzlich darauf, dass er auch kochen und bügeln kann. Aus der Zeit nach dem Tod seiner Großmutter, als er dem Großvater ein Stück Beständigkeit erhalten will. Ihm die Hemden bügelt, die Unterhosen allerdings verweigert. Und sonntags Rouladen kocht mit einem Gewirr von Zwirn, weil man Spieße eben nicht benutzt zu Hause.

Und dann muss er los. Ohne Mittagessen, weil wir uns verplaudert haben. Und ohne Mantel, weil der Himmel ja schließlich heute Morgen blau war. Ein kalkulierbares Risiko, sagt der gar nicht so zugeknöpfte Banker lachend. Und das sei dann ja in Ordnung. Am frühen Nachmittag.