Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute: Christa Goetsch, GAL-Fraktionschefin.

Sie könnte die Erfinderin der gesprochenen Ausrufungszeichen sein. Der gefühlten auch. Dramaturgisch wirkungsvoll eingesetzt hinter jeder knappen Aussage. "Ich bin wie ich bin!" gehört dazu. Eine Rednerin, die mit den Händen rudert. Leicht in Wallungen gerät, gern Ordnungsrufe provoziert. Und auf einen Rhetorikkurs keinen Bock hat. Punkt. Und sie ist kompetent und konsequent. Sie habe eine Beziehung, einen Beruf, ein Kind. Das sei wichtig. Und der Beruf ganz wichtig. Also ja. Ausrufungszeichen! Christa Goetsch. Von Beruf Lehrerin für Chemie und Biologie - und Spitzenkandidatin der GAL für die Bürgerschaftswahl.

Ist Politikerin eigentlich kein Beruf? Das sei eine Herausforderung, eine Aufgabe, wenn man was bewegen will. Oder ja, seit sie 2002 Fraktionsvorsitzende wurde, wahrscheinlich ihr Hauptberuf. 60 Stunden Einsatz pro Woche. Als Beruf nennt sie immer noch Lehrerin. Das war sie mit Leidenschaft. Bis die Politik dazukam. Die wollten wir ja aussparen, sagt sie. Nur wie?

Der Strauss, der Goethe und die Lindgren stehen plötzlich im Raum. Hier im Bistro der Hamburger Kammeroper an der Max-Brauer-Allee in Altona, "ihrem Quartier", diesem heterogenen Stadtteil, an dem seit mehr als zwanzig Jahren ihr Herz hängt.

Johann Strauss also. Der Kaiserwalzer. Silvester um Mitternacht hier auf der Terrasse mit ihrem Mann getanzt. Wie romantisch. Tradition wehrt sie ab. Sie sind dem Theater eng verbunden. Gehören dem Förderverein an. Die Theatermacher Deeken sind Freunde. Und Goethe? Das lange oe im Nachnamen ist ihnen gemeinsam, das Geburtsdatum auch: der 28. August. Und dieser Spruch: Toleranz ist der Übergang der Duldung. Sie stehe voll dahinter. Deutschland - eine Einwanderungsgesellschaft. Akzeptanz nur erreichbar über Kinder und Bildung. Nicht über Toleranz! Ich bin eine Gegnerin der Toleranz, sagt sie entschieden.

Und Astrid Lindgren? Das Stück der schwedischen Autorin "Mio, mein Mio" gibt es um vier hier im Theater. Das wird sie sich mit ihrem Patenkind ansehen. Bis dahin hätten wir also noch reichlich Zeit. Bei Kaffee und Weihnachtsgebäck. Ihre große Schwäche. Genau wie Stressfuttern. Andere würden dünn dabei werden, sie habe sich damit abgefunden, dass es auch barocke Figuren geben muss. Sie ist leicht zu mögen. Diese quirlige Frau mit den eindringlichen braunen Augen, dem atemlosen Redefluss, der Intensität, mit der Privates und Politisches ineinander übergeht.

Da gibt es diese beiden einschneidenden Erlebnisse in ihrem Leben. Tschernobyl. Der Super-GAU 1986 im ukrainischen Kernkraftwerk. Ein Tag vor der Geburt ihres Sohnes Benjamin. Szenen, unauslöschlich eingebrannt: der Fremde, der ihren Ehemann an der Finkenau wortlos mit dem Schirm vom Auto zur Kliniktür bringt. Als Schutz vor dem radioaktiven Regen. Gebunkerte Lebensmittel, Gläschen mit Babynahrung. Und dann neues Entsetzen. Ihre Wohnung am Spritzenplatz über einer chemischen Reinigung ist mit Perchloräthylen verseucht. Ihr Wohnzimmer hat die höchsten Werte im ganzen Haus. Das Baby hat Ausschlag. Gefährliche Blutwerte. Zweimal hintereinander eine Umweltkatastrophe.

Das waren Zeiten! Emotional! Prägend! Zehn Jahre später folgt der Eintritt in die Partei. Da ist sie 43 Jahre. Eine Spätentwicklerin in Sachen Politik also. Vielleicht. Aber soziale Gerechtigkeit habe sie schon immer auf ihr Banner geschrieben. Seit der Oberstufe. Angestoßen von Degenhardts Lied "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern". Das Elternhaus ist streng katholisch und erzkonservativ. Der Vater, Universitätsprofessor, steht nachts im Nachthemd auf der Treppe, wenn die älteste Tochter sich nicht an die Ausgangszeiten hält. Dann bekommt er einen Ruf nach Essen. Das große Glück. Christa Goetsch kommt ans städtische Gymnasium.

Eine neue Welt. Arbeiterfamilien. Scheidungskinder. Freundinnen ohne die häuslichen Ferienreisen. Morgens Strand. Nachmittags Kultur. Mit zwölf durch die Uffizien und die Kirchen in Lucca! Christa Goetsch lacht. Sie sei eine rebellische Tochter gewesen. Auf Krawall gebürstet, mit einer Band durch die Gegend gezogen. Als sie sich später gewerkschaftlich organisiert, und ihrem späteren Ehemann, einem Grünen, ihr Auto leiht, wird es gewöhnungsbedürftig für ihre Eltern.

Bei ihrem Referendariat in Hamburg-"Willemsburg" verliebt sie sich in diese Stadt. Und auch in den Mann, mit dem sie seit 22 Jahren verheiratet ist. Karlheinz Goetsch, Lehrer an der Max-Brauer-Schule und Landesbeauftragter für den Bundeswettbewerb "Jugend debattiert" in Hamburg. Ein absoluter Gleichklang in Sachen schulpolitischer Konzepte, der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund. Die beiden gründen mit Freunden den ersten deutsch-türkischen Kindergarten in Ottensen. Schreiben pädagogische Bücher und, und . . .

Wir sind glücklich miteinander, sagt sie. Lieben uns. Und tun was dafür. Ausrufungszeichen! Einmal im Jahr fahren sie alleine weg. Auf eine Städtereise. Der Ring an der rechten Hand ist ein Geschenk ihres Mannes aus Kapstadt, der andere aus Rom.

Und das Jahr 2000. Die Erfüllung eines Traums. Sechs Wochen segeln durch die Südsee, von Papua Neuguinea aus. Mit Mann, Sohn und drei Freunden. Der Wahnsinn! Eine Herausforderung! So lange auf engstem Raum. Anderthalb Liter Süßwasser pro Person nur zum Waschen. Inseln, Korallenriffe, Einbäume. Ach, vorbei. Leider. Keine Zeit mehr.

Plötzlich, nach einem Riesensprung, sind wir bei den dunklen Zeiten der letzten Jahre. Der Tod beider Eltern. Das langsame Sterben ihrer Mutter. Die Fahrten nach Essen. Jeder Abschied der letzte vielleicht. Es war kein friedlicher Tod, sagt Christa Goetsch leise. Das lässt sie nicht los. Gerade in dieser Jahreszeit auch. Da könne sie immer noch weinen. Das waren eruptive Zeiten, sagt sie zögernd. Draußen wird es laut. Die ersten Kinder stehen auf der Matte. Ich sollte mich noch mal kurz aufschminken, sagt sie. Und ist wieder voll da. Beherrscht, kompetent und energiegeladen.