Was ist, wenn das eigene Kind plötzlich ausrastet? Wenn es Wahnideen hat und in die Psychiatrie gesperrt werden muss? Der New Yorker Autor Michael Greenberg erlebte diesen GAU, als bei seiner 15-jährigen Sally eine Psychose ausbrach - eine Krankheit, die einen von hundert Menschen trifft.

An einem Juliabend 1996 kehren Michael Greenberg und seine Frau Pat aus einem Restaurant zurück und erfahren, dass die 15-jährige Tochter Sally von der Polizei heimgebracht worden ist. Sie hatte Passanten auf der Straße angehalten, sie geschüttelt und ihnen eine "Botschaft" übermittelt. Dann hatte sie sich mit ausgebreiteten Armen mitten in den Verkehr gestürzt, in der festen Überzeugung, sie könne die Autos aufhalten. Bis ihre Freundin Cass die Polizei holte.

Am nächsten Morgen rennt Sally auf und ab wie eine Tigerin. Sie habe eine Vision, sagt sie. Wir alle seien mit grenzenloser Genialität begabt. Aber sie sehe an den Gesichtern der Passanten, dass das Genie unterdrückt werde. Sie selbst, Sally, sei auserwählt, die Menschen zu heilen. Als ihr Vater versucht, sie aufzuhalten, stößt sie ihn mit ungeheurer Kraft gegen die Wand, zerkratzt ihm das Gesicht.

Was in diesem Sommer über seine Familie kam, beschreibt Michael Greenberg heute als "einen Sturm, so als wären wir an einem schönen Tag plötzlich von einem Hurrikan erfasst worden". Greenberg ist ein schmaler, intellektuell wirkender Mittfünfziger, Autor von Drehbüchern und Essays; einer, der mit der Stimme gestikuliert. Beim Interview an diesem Frühlingstag in Hamburg scheint der Hurrikan fern. Aber im Verlauf des Gesprächs spürt man: Die Erinnerungen liegen ganz dicht unter seiner Haut. Wie Adern, die jederzeit hervortreten können.

Greenbergs Buch "Hurry Down Sunshine", das gerade auf Deutsch erschienen ist, beginnt mit dem Satz: "Am 5. Juli 1996 wurde meine Tochter verrückt." Bei Sally brach eine Psychose aus - Auftakt einer Bipolaren Störung. Früher nannte man diese Erkrankung "manisch-depressiv". Sie tritt bei etwa einem von hundert Menschen auf, bei zwei Dritteln von ihnen vor dem 25. Lebensjahr.

Das alles wusste Greenberg damals nicht. "Für mich war die Psychose wie ein Alien. Es war schwer zu akzeptieren, dass sie in uns ist und wie ein Sturm herauskommen kann", sagt er.

Greenberg arbeitete als Freelancer für Magazine, seine zweite Frau Pat als Choreografin. Sally hatte nach der Scheidung ihrer Eltern anfangs bei ihrer Mutter auf dem Land gelebt, war aber mit 13 zu ihrem Vater gezogen. Das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter war nicht immer einfach, aber Pat hatte mit ihrer ruhigen Art einen Zugang zu ihr gefunden. Lange Zeit hatte Sally Lernschwierigkeiten, zugleich war sie ein ungewöhnlich kreatives, lebhaftes und mitfühlendes Mädchen. Nichts deutete auf eine psychische Störung hin.

"Die Art, wie sie ihre Vision beschrieb - daran merkte ich, dass etwas in ihr kaputtging, dass sie eine Grenze überschritten hatte", sagt Greenberg. Sally war erfüllt vom Pathos, "von einer hohlen Grandiosität. Sie stieß die Worte heraus wie eine Maschine, völlig atemlos, wurde immer wirrer, und je wirrer sie wurde, desto mehr wollte sie sich verständlich machen." Dabei zitterte Sally an allen Gliedern. Die Greenbergs waren fassungslos.

Man spürt die Szene fast mit. In der hochsommerlich überhitzten New Yorker Wohnung kauert die Familie in angespannter Wachsamkeit, wie unter einem Bann. "Der Tag fühlt sich immer unwirklicher an", schreibt Greenberg. "Wir verfügen über keine gemeinsame Sprache mehr ... Sallys Fixierung verschlingt alles." Als ihm Tränen über das Gesicht laufen, sagt sie: "Ich bin stolz auf dich, Vater." (Vater - sonst sagte sie "Daddy".) Sie glaubt, er habe ihre Vision verstanden und weine aus Freude. Ihm wird klar, dass er Sally in ein Krankenhaus bringen muss.

Auf der psychiatrischen Station bekommt Sally ein winziges Zimmerchen mit vergittertem Fenster, muss Gürtel, Schnürsenkel, Kamm und Kugelschreiber abgeben. Sie verschwindet in einer Welt der doppelten Schlösser und der Psychopharmaka. Und zu Hause, am Telefon, hört er dann von Sallys leiblicher Mutter jenen Vorwurf, den wohl alle Mütter dieser Welt machen würden; vor dem er sich am meisten fürchtet, weil er ihn selbst glaubt: "Du hast sie doch nicht etwa weggesperrt!"

"Ich fühlte mich unglaublich schuldig", sagt er und ringt die Hände, heute noch. "Ich musste mir eingestehen, dass ich nichts für Sally tun konnte. Dass ich sie nicht schützen konnte, in meiner Vaterrolle gescheitert war." Der Moment, in dem er die Einweisungspapiere unterschreiben musste, hat sich ins Gedächtnis eingebrannt. "Man wird zur Autorität, zur Polizei. Als nähme man ihr die Persönlichkeit, ihren Willen weg. Und zur selben Zeit spürt man: Es gibt keine Alternative, sie ist eine Gefahr für sich selbst."

Greenberg ist ein Kind der 70er-Jahre. Als Autor kennt er Ken Keseys "Einer flog übers Kuckucksnest", er kennt Hannah Greens "Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen", eine autobiografische Auseinandersetzung mit der Schizophrenie. "Psychiatrie" ist immer noch ein Tabu-Ort, gemieden, verschwiegen, angstbesetzt. Sally wird mit Haloperidol sediert. Es hemmt die Produktion von Dopamin, jenem Botenstoff im Gehirn, dessen Überschuss zu ihrem bizarren Verhalten geführt hat. Aber es macht sie apathisch, sie reagiert kaum noch. "Ihre Stimme klingt kratzig und wackelig wie eine gewellte LP."

Erst allmählich, über Wochen, wird die Situation für die Greenbergs vertrauter. Unter Sallys Mitpatienten, sympathischen wie unsympathischen Menschen, ist ein 18-jähriger Junge, dessen Familie strenggläubiger chassidischer Juden ihn umringt wie eine schützende Herde. Sein Bruder behauptet, der Junge sei "im Stadium der Ekstase, der direkten Anbindung an Gott".

"Ich konnte ihn irgendwie verstehen", sagt Greenberg. "Ich glaube, sie haben sich geschämt. Sie hatten dasselbe Problem wie ich. Wir wollten nicht, dass unsere Kinder dorthin gehören. Aber wir waren hilflos."

Eine Psychose baut sich langsam auf, es gibt Anzeichen, hatte der Psychiater der Station gesagt. Bei Greenberg und Pat begann die Phase schuldbewusster Selbstbefragung. Hätten sie die Zeichen nicht sehen müssen?

"Wenn sie nicht 15 gewesen wäre, hätte ich vielleicht eher etwas gemerkt", sagt Greenberg. In den Vorwochen konnte Sally oft nicht einschlafen, sie hatte nachts im Wohnzimmer gesessen, Shakespeares Sonette gelesen, im Walkman immer wieder Glenn Gould mit Bachs Goldberg-Variationen gehört. Als Greenberg den Gedichtband einmal aufschlug, stieß er auf ein Gewirr von Pfeilen, Definitionen und umkringelten Wörtern. Sally schrieb auch selbst Gedichte. Etwa: "Und wenn alles still sein müsste, / versengt dein Feuer einen Fluss aus Schlaf. / Weshalb, Liebster, soll der große / Höllenatem küssen, was du siehst?"

Kein typischer Stoff für eine 15-Jährige, gibt Greenberg zu. Aber er ist Schriftsteller. Er glaubte, dass sie mit typischer Grenzenlosigkeit der Jugend ihre Talente, ihre Identität entdeckt. Dass sie sich nach jahrelanger Lernschwäche von ihren Minderwertigkeitsgefühlen befreit. Sally habe immer ein großes Mitgefühl für Schutzlose gehabt, sagt er, eine große Empathie. "Ich liebe sie dafür. Und es war das, was ich sehen wollte. Ich wollte, dass sie brillant wird, dass sie sie selbst wird."

Dass die Schlafstörungen und das angespannte Schreiben bereits manische Züge trugen, sah er nicht. Sallys New-Age-bewegte leibliche Mutter, die nach New York eilt und viele Tage bei ihrer Tochter verbringt, glaubt, dass Sally "eine Erfahrung besonderer Art" durchlebt. Alle Eltern raten, relativieren - und idealisieren.

Der prominente New Yorker Neuropsychiater Oliver Sacks ("Awakenings", "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte") hat sich intensiv mit der Persönlichkeit von Bipolar Gestörten befasst. Die Störung könne auch ohne Psychose ausbrechen, manchmal mit Wahnvorstellungen oder einem Realitätsverlust, schreibt er. Zwischen manischen und depressiven Episoden gibt es mehr oder weniger lange "normale" Phasen. Jede manische Episode fühle sich für den Betroffenen wie eine Bewusstseinserweiterung an, wie eine besondere Sensibilisierung für die Zusammenhänge der Welt, sogar für Sinneswahrnehmungen. Das Nervensystem ist im Ungleichgewicht, aber die Euphorie, die ungeheure Energie geben ein Gefühl gesundheitlicher Hochform. In einer depressiven Episode aber fühle sich das Leben an, als eröffne sich ein karger und felsiger Abhang, der zu endlosen zerrissenen Erinnerungen und Einbildungen führt wie in eine Fallgrube ohne Boden. Ein Gegensatz, in dem sich viele Patienten zermahlen fühlen. Viele empfinden aber auch eine sehr eigene Lebensintensität.

"Ich wusste nicht, was für ein Weg vor Sally und vor uns liegen würde", sagt Greenberg. Eine Familienberatung oder familienpsychologische Hilfe gab es nicht - und gibt es auch heute in den meisten Kliniken nicht. "Sie war in ein fremdes Land gegangen. Wir hatten Angst, dass sie nicht mehr zurückkehren würde."

Tatsächlich ist Sallys "akute Phase" erst nach Wochen ausgestanden. Sie wird mit Auflagen entlassen: Die schwere Dosierung der Sedativa ist verringert, sie spricht und bewegt sich wieder normal. Aber sie muss zahlreiche Medikamente nehmen. Greenberg und Pat leben in ständiger Wachsamkeit, horchen auf Sallys Tonfall, auf den Takt ihrer Schritte.

Die Wende kommt, als Sally bei der jungen deutschen Psychiaterin Nina Lensing eine ambulante Therapie beginnt. Lensing findet sofort einen Zugang zu dem tief verunsicherten Mädchen. Und sie versteht, dass Menschen mit einer Psychose bei allem Getriebensein einen mächtigen, begeisternden Drang spüren - der diabolisch ist und der sie nicht entlassen will.

"Immer, wenn Sally zurückfiel, sagte Lensing: ,Siehst du? Es ruft nach dir.' Sie hat Sally beigebracht, die Psychose als eine Art Feind zu sehen, der sich als Freund ausgibt", notiert Greenberg. Ein Modell, das Sally versteht und das ihr die Angst nimmt. Die Therapie dauerte fast zwei Jahre.

Sally konnte in die Schule zurückkehren und sie erfolgreich abschließen. Heute ist sie 28 Jahre alt und lebt in einem Dorf in Vermont. Sie hatte mehrere Rückfälle, manchmal verbringt sie zwei Wochen auf einer therapeutischen Ranch. Eine Ehe zerbrach.

Aber sie arbeitet tageweise bei einem Tierarzt und in einer kleinen Bäckerei, beteiligt sich an Gemeindeaktivitäten. Als Greenberg vor zwei Jahren begann, seine Erinnerungen an jenen Sommer aufzuschreiben, war sie es, die ihn bat, ihren vollen Namen zu nennen.

"Ich hatte Angst, das Buch könnte Erinnerungen wecken und ihr schaden", sagt er. "Aber sie sagte mir, sie habe das Gefühl gehabt, über eine andere Person zu lesen, über ein 15-jähriges Mädchen, das Sally hieß und durch die Hölle ging. Sie wollte, dass es alle lesen, ihr Therapeut, Bekannte und Freunde. Ich war unglaublich erleichtert."

Greenbergs Buch ist kein Krankheitsprotokoll. Es ist die sehr persönliche, einfühlsame, stellenweise sogar selbstquälerische Erinnerung eines Vaters an einen "Sturm", der seine ganze Familie verändert. Sie reiht sich ein in Tilman Jens' Auseinandersetzung mit der Demenz seines Vaters Walter Jens oder die Erinnerung der Bestsellerautorin Danielle Steele an ihren manisch-depressiven Sohn Nick.

Heute telefonieren Vater und Tochter täglich. Die Sorge begleitet Greenberg weiterhin. Ständig. "Sie wird dann wütend", sagt er. "Wenn sie bis zwei Uhr morgens ein Buch gelesen hat und ich ihr Vorwürfe mache, sagt sie: ,Mein Gott, das Buch war eben so spannend!' Wir arbeiten daran."

Michael Greenbergs "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde" ist bei Hoffmann und Campe erschienen (288 Seiten, 19,95 Euro).