Sterne, Schmetterlinge und Skelette. Jeder zehnte Deutsche hat sich bereits stechen lassen. Das Tattoo wird zum Massenphänomen. Auf einer Messe in Lübeck haben sich die Anhänger der Hautbemalung getroffen.

Das irre Surren der altmodisch anmutenden Tätowiermaschinen erfüllt die Turnhalle. Zeitweise wird es von langhaarigen Altrockern übertönt, die auf der kleinen Bühne der Tattoo Convention in Lübeck aktuelle Radiosongs covern. Besucher drängen sich an den langen Reihen der Bierzelttische, blättern durch Hunderte Tattoo-Vorlagen. Hinter den Tischen sitzen Schulter an Schulter Tätowierer, die mit 800 bis 3500 Nadelstichen pro Minute synthetische Farbpigmente in die mittlere Hautschicht, die Dermis, ihrer Kunden stechen. Ein Hauch Desinfektionsspray liegt in der Luft.

"Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt mich tätowieren zu lassen, aber hergekommen waren wir eigentlich nur, um uns zu informieren", sagt die gerade volljährige Stephanie Schweitzer. Jetzt sitzt sie doch vor Adriaan, einem Gasttätowierer aus Barcelona. Ihr rechter Arm zittert, die linke Hand hält der Papa ganz fest. Ihre großen braunen Augen schauen konzentriert ins Nichts, und sie zerkaut fahrig ihren Lollistiel, während der Spanier mit seiner schnarrenden Nadel einen Stern und ein verschlungenes S auf ihr Schulterblatt sticht. "Es tat schon weh!", sagt die Schülerin aus Hamburg, nachdem ihr frisches Tattoo desinfiziert und mit Frischhaltefolie verklebt ist, "erst mal lass ich das jetzt heilen. Dann könnte mir noch eins vorstellen. Irgendwann."

Sterne, wie bei Stephanie, scheinen als Motiv überhaupt sehr gefragt. So beliebt, dass einige der etwa 60 Stände handschriftliche Notizen aufgehängt haben: "No stars today!" Trotzdem sind sie auf der Messe in vielen Variationen zu bestaunen. Janina Ziegner, Mitarbeiterin von Trust-Bodymodifikation Mannheim, trägt den wohl eindrucksvollsten Himmelskörper unter der Haut. Er ist nicht tätowiert, sondern implantiert. Durch einen kleinen Schnitt wurde geformtes Silikon unter das abgelöste Gewebe gesetzt und bildet nun einen sternförmigen Wulst auf ihrem Handrücken. Neugierige dürfen gerne anfassen. "Das war vor drei Jahren. Hätte ich damals geahnt, dass Sterne so ein Trend werden, hätte ich sicher etwas anderes gemacht", beteuert die junge Frau, um deren Unterarm sich auch noch ein tätowierter Sternenschweif windet. Insgesamt trägt sie über 20 Piercings und rund 10 Tattoos. Würde sie den Jungfernstieg entlangspazieren, wären ihr schockierte Blicke sicher. Und das, obwohl man auf den ersten Blick nicht bemerkt, dass auch noch ihre Zunge gespalten ist.

Es wird jetzt schummrig in der Halle, nur wo tätowiert wird, brennen noch Lichter. Die Bühne betritt ein norwegisches Pärchen mit weiß geschminkten Gesichtern und Irokesenfrisuren. Sie sind die Freakshow "Pain Solution". Nagelbretter, Fleischerhaken und viel nackte Haut - nicht jeder mag hinsehen. Torsten Rudolph-Schneider hat einfach nur keine Zeit, sich die Show anzugucken. Der gelernte Kutschenbauer, heute Tätowierer, lässt sich von einem Kollegen von Skindoctors Cottbus das Knast-Tattoo auf seinem Oberarm überstechen: "Ich bin über falsche Kontakte damals auf die Tätowier-Schiene gerutscht." Das düstere Motiv auf seinem Oberarm, ein Skelett hinter einer Mauer, wird bald jedenfalls von netten Hawaiiblumen überrankt sein - "Es schlummert ja nicht überall 'ne dunkle Seele drin."

Eine Tätowierung ist schon lange nicht mehr der Stempel zwielichtiger Gestalten. Auf Messen wie dieser treffen sich Normalverbraucher, Skinheads, Punks und Rocker - in freundlicher Umgebung. "Es gab noch nie Probleme bei einer meiner Conventions. Der Körperkult verbindet eben", sagt Dennis Kofoldt, Organisator auch der Tattoo-Expos in Kiel und Flensburg. Er schätzt, dass unter anderem prominente Träger wie Supermodel Kate Moss oder Profifußballer David Beckham Tätowierungen gesellschaftsfähig gemacht haben. Etwa jeder zehnte Deutsche habe sich bereits pieksen lassen. Kofoldts erstes Tattoo, das Kieler Wappen, das er sich im Alter von 15 Jahren machen ließ, wurde längst überstochen. "Manchmal wünsche ich mir, noch einmal ganz ohne Tattoos zu sein. Aber nur, um neu anzufangen. Mit einem komplett durchgestylten Ganzkörperkonzept."

Hagen Stoll, unter dem Namen Joe Rilla bekannt als Berliner Rapper und Produzent, stimmt ihm zu, "aber ich möchte auch meine Geschichte auf meiner Haut tragen. Und sie meinen Kindern zeigen können." Seine Erscheinung wirkt bedrohlich, seine Musik ist aggressiv. Wenn er aber von den Bildern spricht, die seinen kompletten Oberkörper zieren, wird er schwärmerisch: "Ich trage Kunst auf meiner Haut. Meine Tattoos machen mich einzigartig. Natürlich ist es eine Leidenschaft, weiße Stellen stören mich. Das ist das menschliche Streben nach Perfektion." Die harte Fassade bröckelt endgültig, als er von den verewigten Porträts seiner Kinder auf der Herzseite sei-ner Brust erzählt: "Die Seite hatte ich mir immer freigehalten. Ich bin dann 600 Kilometer gefahren, um das vom besten Tätowierer für fotorealistische Motive machen zu lassen."

Tätowierer, für die man noch weiter reisen müsste, kommen bei Conventions zum Kunden. In Lübeck sind Gäste aus Ungarn, Weißrussland und sogar Kanada vertreten. Für die Szene bieten diese Zusammenkünfte Austausch und Inspiration. Jeden Abend wird das beste Tattoo des Tages prämiert. Weil Tätowierer in Deutschland kein anerkannter Ausbildungsberuf ist, sind solche Auszeichnungen wichtiger Indikator der Fähigkeiten eines Tätowierers. Sie schützen Kunden vor Amateuren, sogenannten "Scratchern". Juliane Dabrowski, umgeben von Desinfektionsmittel, Zangen, Nadeln in 50er-Packs, bunten Farbfläschchen, Netzteilen und Tupfern, sagt: "Für'n Appel und 'n Ei kann jeder eine Maschine im Internet kaufen." Den Preis für eine gute Ausrüstung setzt die 20-Jährige, deren Eltern Tätowierzubehör vertreiben, zwischen 600 und 1200 Euro an.

In diesem Preisrahmen liegt auch die Tätowierung, die Michael Schmidt heute bekommt. "Was es kostet, kann ich nicht verraten. Ist viieeel zu günstig!", sagt Martin Müller vom Tattoozentrum Lübeck. Er versieht den rechten Rippenbogen des 32-jährigen Bootsbauers mit einer Madonna. Immer wieder tupft er die überschüssige Tinte mit Küchenpapier ab, es ist blutrot. Das Motiv nicht. Michael Schmidt beißt in sein zerknülltes T-Shirt. Schon seit viereinhalb Stunden liegt er leidend auf seiner Liege. Es ist zwar sein sechstes Tattoo, aber die heilige Jungfrau bereitet ihm besondere Schmerzen. Unter den Rippen sitzen die wichtigen Organe - der Körper rebelliert und Michael Schmidt zappelt. Ob er je eines seiner Tattoos bereuen wird? "Definitiv nicht!" Eine Tattoo-Entfernung wäre auch noch teurer und noch schmerzhafter.

Daran denkt hier und heute aber niemand.