Andreas Schorlemmer (60) arbeitet als Polizeiseelsorger. Er muss Angehörigen Todesnachrichten überbringen, Opfer betreuen und Kollegen beistehen, die seelisch an ihre Grenzen stoßen.

Andin Tegen sprach mit ihm über seinen Alltag zwischen Trost und Trauer - und wie lange er selber das erträgt.

Als Polizeiseelsorger begleiten Sie Polizisten zu Tatorten und leisten Hinterbliebenen Beistand. Wie spricht man mit jemandem, der kurz vorher die Leiche seiner Frau gesehen hat ?

Solche Menschen stehen immer unter einem tiefem Schock. Für sie bleibt die Zeit stehen, und sie fragen sich: Warum bin ich nicht da gewesen? Habe ich versagt? Was soll ich jetzt machen? Sie haben enorme Schuldgefühle, weil sie in einem entscheidenden Moment ihres Lebens meinen, nicht das Richtige getan zu haben. Sie waren eben nicht da, um zu helfen, egal aus welchen Gründen. Das kann man denen nicht einfach wegdiskutieren. Ich kann dann nur schweigen, zuhören, dem Blick der Person standhalten, mich vollkommen selbstvergessen und durch rein gar nichts ablenken lassen. Ein Mensch verliert sofort das Vertrauen, wenn er merkt, man ist nicht vollkommen bei ihm. Aufmerksamkeit ist eine fühlbare Energie. Ich sage in solchen Situationen nie Sätze wie: "Mein herzliches Beileid." Beileid, und das merken diese Menschen, wirkt nur authentisch, wenn man wirklich weiß, warum jemand leidet. Wenn der Mensch sich immer nur im Kreis dreht, übernehme ich allerdings irgendwann die Gesprächsführung.

Gibt es Situationen, in denen ein weiterer Beistand, zum Beispiel ärztlicher, notwendig ist, weil die Person kollabieren könnte?

Wenn ich Angehörigen den Tod eines Nahestehenden übermittle, fahre ich immer allein hin. Ohne Krankenwagen und ohne Medikamente zur Beruhigung. Erst einmal vertraue ich der Person, dass sie die Nachricht aushalten kann. Dieses Vertrauen ist sehr wichtig. Und es ist erstaunlich, wie viele Menschen eben nicht in Ohnmacht fallen, wenn man es direkt sagt. Mit Ärzten im Rücken, würde man ihnen sofort suggerieren, dass sie jetzt offiziell hilflos sind. Die Ohnmachtgefühle und der Kontrollverlust wären ungleich größer.

Kümmern Sie sich auch um Täter? Welche Art von Beistand müssen Sie da leisten?

Das kommt auch vor. Ein Mann hat vor ein paar Jahren aus Eifersucht seine Ehefrau getötet und fuhr daraufhin mit dem Auto fort. Als er gefunden wurde, erwarteten die Beamten einen hochgradig aggressiven Menschen, dabei saß dort jemand hinterm Lenkrad, der vollkommen verzweifelt, hilflos und außer sich war. Er hatte es vor, aber nicht mehr die Kraft, sich selbst etwas anzutun. Ein anderes Beispiel: Ein Jugendlicher tötete seine Mutter. Im Gefängnis schaffte er es kaum, über seine Tat zu sprechen, so sehr bereute er sie. Ich versuchte, ihm in vielen Gesprächen zuzuhören und wartete darauf, dass er über die Tat redet. Er brach mitten im Sprechen immer wieder ab und wiederholte nur, dass er nicht weiß, warum er das getan hat. Das Motiv ging ihm vollkommen verloren, und er wirkte total leer. Nicht immer bereuen Täter. Aber es ist nicht an mir, die Welt in Gut und Böse zu teilen. Weder ist der Mensch gut, noch böse geboren worden. Man muss ihn und sein ganzes Leben betrachten. Ein Mensch ist sehr oft Opfer seines eigenen Handelns. Ich trenne den Menschen in solchen Situationen von der Tat.

Das klingt psychotherapeutisch. Analysieren Sie die Täter?

Nein, ich bin kein Therapeut. Ich kann nur erkennen, wenn jemand unter posttraumatischen Stresssyndromen leidet, unter Albträumen, Schlaflosigkeit oder Angstzuständen. Dann empfehle ich ihm die professionelle Hilfe eines Therapeuten.

Sie haben nur mit negativen Dingen wie Tod und Trauer zu tun, das muss viel Energie zehren. Woraus schöpfen Sie wieder Kraft?

Ich gehe immer wieder an meine Grenzen. Ich besteige Berge in den Alpen, zum Beispiel. Das ist wie eine Aufgabe, die ich lösen muss. Es ist anstrengend, kräftezehrend, und manchmal bin ich kurz davor aufzugeben. Aber ich muss den besten Weg nach oben finden. Und er findet sich. Das beweist mir immer wieder, dass Probleme lösbar sind. Aber ich schöpfe auch Kraft aus der Ruhe. Ich kann stundenlang auf das Wasser der Ostsee schauen, an der mein Wohnort liegt. Oder ich höre Bach.

Was fällt Ihnen am schwersten im Job?

Das Lachen zu bewahren, die Heiterkeit. In meinem Job merke ich jeden Tag, dass wir alle vergänglich und dem Tod gleich nah sind. Oft merke ich selbst gar nicht, wie mich das persönlich verändert. Es geschieht auch eine Art Selbstschutz, wenn man sich von sich selbst distanziert, damit man einem Opfer die volle Aufmerksamkeit schenken kann. Ich bin dann immer so weit entfernt von mir. Es ist für mich ein ganz schöner Angang geworden, über meine eigenen Bedürfnisse und Empfindungen zu reden. Das fordert aber mein privates Umfeld immer wieder ein, und das ist auch gut so. Ich lerne nicht nur andere Menschen kennen, sondern auch mich selbst. Ein nicht endender Prozess.

Sie begegnen auch immer wieder Menschen, die sterben. Merken Sie, wenn jemand ablebt?

Ich denke, ich merke es. Manchmal machen sie nur ein bestimmtes Geräusch, man sieht, wie ihr Blick trüb wird, man fühlt, wie die letzte Energie ihren Körper verlässt. Aber es gab auch Momente, in denen ich mich getäuscht habe, und ich mich danach sehr dafür schämte, dass ich die Person innerlich aufgegeben hatte.

Haben Sie auch mal selbst mitgeweint, wenn jemand getrauert hat?

Das kann ich mir nicht leisten. Wenn ich selbst mitweinen würde, könnten die Leute das Vertrauen verlieren in meine Fähigkeit zu helfen und zu handeln. Wo bliebe da die Zuversicht?

Erinnern Sie sich an ein Ereignis, das Sie sehr berührt hat?

Ja, das gibt es. Ein Fall wie tausend andere: Ein Mann übersah ein Kind, das über die Straße rannte und überfuhr es. Die Eltern waren untröstlich. Aber ich besuchte sie immer wieder, sie waren ungeheuer tapfer. Nachdem ich die Todesnachricht überbracht hatte, traute ich mich, zu fragen, ob ich beim nächsten Mal den Fahrer des Wagens mitbringen dürfte. Der Mann litt selbst stark unter dem, was passiert war und wollte um Vergebung bitten. Die Eltern willigten ein. Da standen also Eltern und Täter voreinander, und die Eltern hatte die Größe, ihm die Hand zu reichen und ihm zu vergeben. Das sind Momente, die ich nie vergessen werde. Sie luden ihn auch zur Trauerfeier ein. Als sie am Grab ihres Kindes standen, riefen sie diesen Mann in ihre Mitte. Er kam, und zu dritt umarmten sie sich. Diese Eltern haben sich damit selbst befreit. Das gelingt nicht vielen.

Warum haben Sie einen so herausfordernden Beruf wie den des Polizeiseelsorgers gewählt?

Es klingt naiv, aber in meiner Umgebung war eben nur diese eine Stelle frei. Es hatte keinen anderen Grund. Im Laufe der Zeit merkte ich aber, dass ich den Beruf aushalten kann, und dass er mir sehr viel gibt.

Welchen Eindruck haben Sie von der Arbeit der Polizisten bekommen, die Sie ja ständig begleiten?

Ich habe sehr viel Respekt vor ihrer Arbeit. Ihr Job ähnelt meinem, weil wir beide nicht fliehen können. Wir müssen immer sofort zum Tatort, die Lage abschätzen, Hilfe und Beistand leisten. Diese Arbeit schweißt zusammen. Aber eine Zusammenarbeit war nicht immer selbstverständlich. Ich lebe schon immer in Mecklenburg Vorpommern, aber zu DDR-Zeiten waren Polizei und Kirche stark getrennt. Anfangs mussten die Kollegen lernen, auf mich zuzugehen. Es war ungewohnt, dass mitten auf ihrem Revier plötzlich ein Geistlicher einen kargen Raum mit Kreuz an der Wand bewohnt. Ich war und bin ja nicht nur für die Opfer und Angehörigen da, sondern auch, um Polizisten Beistand zu leisten. Anfangs besuchte mich kaum einer, und wir mussten lernen, aufeinander zuzugehen. Heute geht das problemlos. Viele von ihnen sind enge Freunde geworden.

Wie gehen Polizisten mit der Belastung ihres Berufs um?

Wenn man immer im Dunkeln der Gesellschaft wühlt, bleibt etwas hängen. Es gibt Kollegen, die verschanzen sich hinter einem Schutzwall, der vom Bürger als unfreundlich, grob, humorlos wahrgenommen wird. Einige scheitern und finden nicht mehr die Balance zwischen Beruflichem und Privatem, ihre Beziehungen zerbrechen, andere stumpfen innerlich ab. Manche quittieren den Dienst frühzeitig, weil sie dem Druck nicht mehr standhalten können. Aber die Mehrheit ist psychisch stabil. Viele Polizisten können sich immer wieder neuen Situationen und Menschen öffnen. Das ist bewundernswert, und sie geben auch mir selbst immer wieder Zuversicht.

Haben Sie eine andere Einstellung zum Leben gewonnen?

Der Beruf hat mir vieles beigebracht. Es klingt wie eine Binsenweisheit, aber unter anderem sollte man sich von Nahestehenden immer so verabschieden, dass man im Guten geht. Ich habe miterlebt, wie sehr jemand leidet, der einen Menschen verloren hat, mit dem er sich zuvor gestritten hatte. Die Schuldgefühle sind noch größer und der Wunsch, sich mit dem anderen zu versöhnen wird nie ganz verschwinden.

Haben Sie die Angst vorm eigenen Tod verloren?

Nein, ich würde lügen, wenn ich das sagen würde. Man hat ihn immer wieder vor Augen und weiß dennoch nicht, wie er sich wirklich anfühlt. Und es wird auch immer zutiefst schmerzhaft sein, wenn Nahestehende sterben.

Gibt es Menschen, die Ihren Trost in so einem Moment ablehnen?

Ja, das gibt es, und ich muss immer wieder neu lernen, es nicht zu persönlich zu nehmen. Ich respektiere diesen Wunsch. Er kann tausend Gründe haben, die ich alle nicht kennen kann.

Was braucht man für Eigenschaften, um Ihre Arbeit zu leisten?

Man muss psychisch und körperlich gesund sein und ein unverwüstliches Vertrauen haben. In meinem Fall ist es der Glaube ans Evangelium. Ich lebe darin und kann mich bei all meinen Zweifeln immer wieder darin entdecken. Aber es geht nicht um eine spezielle Religion, sondern eher um Religiosität. Wie viel Demut besitze ich vor dem Leben an sich? Vor dem Sein? Es ist kein Beruf für Leute, die glauben, alles unter Kontrolle zu haben, die selbst überzeugte Macher sind. Bei all den unvorhersehbaren Ereignissen ist es wichtig zu wissen, dass alles seinen Sinn hat und dieser Sinn nicht negativ an sich ist. Selbst wenn es um die Frage geht: Warum musste jetzt schon wieder ein Kind sterben?

Wie viele Jahre hält man den Beruf aus?

Das ist sehr unterschiedlich. Viele Seelsorger sind schon über 20 Jahre dabei. Es ist wichtig, ehrlich zu sich zu sein und zu gehen, wenn der Kanal voll ist. Wenn keine traurigen Ereignisse mehr Platz in einem haben. Es gibt Kollegen, die haben diesen Absprung nicht gefunden.

Sie selbst sind schon seit zehn Jahren Polizeiseelsorger. Wie lange können Sie noch?

Ich werde noch fünf Jahre lang arbeiten, bis zu meiner Rente. Aber dann ist wirklich Schluss.

Andreas Schorlemmer: "Manchmal hilft nur Schweigen" - Ullstein, Hardcover, 18,90 Euro, 207 Seiten. Das Buch erscheint demnächst auch als Taschenbuch.