Dierk Strothmann über Leips Liebeslyrik, Lale, Londoner BBC, Lager und Langeoog

Selbst einige der berühmtesten Dinge brauchten ihre Zeit, um erfolgreich zu werden. Auch Glück muss dabei sein, manchmal sogar eine Kette von Umständen, bei der kein einziges Glied fehlen darf. So war es auch beim wohl bekanntesten Lied aller Zeiten, einem Gedicht, das ein Mann geschrieben hat, der 1893 in unserer schönen Stadt geboren wurde - als Sohn eines Seemanns und späteren Schauermanns und der als Lehrer in Rothenburgsort arbeitete, bevor er 1915 in den Krieg ziehen musste.

Die Rede ist von Hans Leip. Auf seiner Pritsche in einer Kaserne schrieb er jenes Lied. Das "einfache Liebeslied vom traurigen Abschied des Frontsoldaten", wie er es beschrieb. Die wehmütige Geschichte von Lili Marleen konnte ihren Siegeszug durch die Welt nur beginnen, weil sich ein gewisser Norbert Schultze aus Berlin mehr als zwanzig Jahre später eine Melodie dazu einfallen ließ und weil Liselotte Helene Bunnenberg, die Tochter eines Schiffsstewards aus Bremerhaven, die sich den Künstlernamen Lale Andersen zugelegt hatte, es mit rauchiger Stimme sang. Sie sang es mit so viel Herz, weil es ihr so gut gefiel. "Ein Weihnachtsgeschenk hätte mich nicht so beglücken können", schrieb sie, "wie diese Lyrik von Hans Leip."

Aber das allein hätte auch nicht gereicht. Denn von der Platte "Lili Marleen", die die Firma Electrola 1939 in den Handel brachte, wurden gerade einmal 700 Stück verkauft. Es war, wie man heute sagen würde, ein "Flop".

Hans Leips Werk wäre längst vergessen, Norbert Schultze wäre nicht reich und Lale Andersen kein Star geworden, wenn nicht 1941 in Belgrad ein deutscher Soldatensender eingerichtet worden wäre. Und wenn sich nicht unter den 200 schwarzen Scheiben zufällig auch "Lili Marleen" befunden hätte.

Am 18. August 1941 ging das Lied erstmals über den Sender. Die Reaktion war überwältigend. Tausende junger Soldaten schrieben an den Sender, baten um Wiederholung, und so beschloss man, mit "Lili Marleen" jeden Abend um 21.55 Uhr den Sendebetrieb zu beenden. Lale Andersen wurde vom plötzlichen Erfolg des Liedes völlig überrascht. Als sie nach ein paar Wochen Fronttournee zu Hause die Tür öffnete, lagen dort Hunderte Briefe, adressiert an "Lili Marleen, Sender Belgrad" und per Feldpost weitergeleitet.

Dieser Erfolg war für die Sängerin nicht nur glücklich. Die Nazis hatten Lale auf dem Kieker, nachdem sie einen Brief abgefangen hatten, in der sie ihrem Freund Rolf Liebermann, dem später weltberühmten Hamburger Opernintendanten, in die Schweiz geschrieben hatte, dass sie sich gern nach einer Italienreise in die neutrale Alpenrepublik absetzen wollte. "Lili Marleen" rettete ihr Leben. Als die Gestapo drohte, Lale Andersen in ein Lager zu stecken, schluckte sie eine Überdosis Schlaftabletten und war drei Wochen lang bewusstlos. Die Londoner BBC verbreitete die Nachricht, dass die Sängerin der "Lili Marleen" in einem Konzentrationslager gestorben sei. Propagandaminister Joseph Goebbels nutzte sofort die Chance, die englischen Rundfunkleute als Lügner hinzustellen und präsentierte die unglückliche Lale Andersen als durchaus lebendig. 1944 gelang ihr die Flucht auf ihre geliebte Insel Langeoog zu ihren Großeltern. Hier konnte sie sich verstecken - auf jener Insel, auf der sie seit ihrem Herz-Tod 1972 begraben liegt ...