Dierk Strothmann über eine Fahnenflucht, die nach Kriegsende keine mehr war

Es gibt Geschichten, die sollten immer wieder erzählt werden, weil sie so viel aussagen über die grausamen Mechanismen von Krieg und Gewalt, und weil sie mahnen, so etwas nie wieder geschehen zu lassen. So wie die Geschichte von Fritz Wehrmann und zwei seiner Kameraden, Alfred Gayl und Martin Schilling, in der Hamburg nur eine Nebenrolle spielt, aber eine wichtige; denn hätte Fritz Wehrmann, der aus Leipzig stammte, als Junge nicht immer wieder Fahrradausflüge in den Hamburger Hafen unternommen und hätte ihn dabei nicht die Sehnsucht erfasst, zur See zu fahren, dann wäre all das, was folgte, wohl nie geschehen.

Wehrmann und seine Kameraden dienten Ende des Zweiten Weltkrieges auf einem Schnellboot in der Geltinger Bucht, als sie am 4. Mai 1945 aus dem dänischen Rundfunk erfuhren, dass Deutschland gegenüber England kapituliert hatte. Die drei beschlossen: Wir wollen nach Hause. Sie hatten Pech, dänische Hilfspolizisten griffen sie auf und anstatt zu sagen, dass sie zu ihren Familien wollten, behaupteten sie, sich nach Kurland durchschlagen zu wollen. Mit der Wahrheit hätten sie vielleicht menschliches Verständnis ausgelöst, so aber kamen sie vor ein Kriegsgericht. Kommodore Rudolf Petersen, Chef der Schnellboote und oberster Gerichtsherr, verurteilte sie zum Tode. Es war der 9. Mai 1945, der Tag nach der deutschen Kapitulation - am Tag zuvor hatte Petersen höchstpersönlich die Reichskriegsflagge eingeholt. Die drei wurden hingerichtet, die Leichen in der Ostsee versenkt. Ihre Familien erfuhren erst viele Monate später davon.

1953 kam es zu einem Gerichtsverfahren vor dem Hamburger Landgericht. Petersen und die anderen Richter wurden wegen Totschlags und Rechtsbeugung angeklagt. Und freigesprochen. Die Mutter Alfred Gayls nahm sich daraufhin das Leben, Anna, die Mutter von Fritz Wehrmann, kam in ein Pflegeheim und starb in geistiger Umnachtung.

Petersen arbeitete nach Kriegsende als Handelsvertreter, wurde Leiter der Hanseatischen Yachtschule in Glücksburg, arbeitete für den Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr. Er fand einen seltsamen Tod. Als dem damals 77-Jährigen in der Silvesternacht Jugendliche an der Haustür Böller ins Gesicht warfen, erschrak er so sehr, dass er am 2. Januar 1983 starb.

Was Fritz Wehrmann und seinen Kameraden geschah, ruft Empörung und Abscheu hervor. Wie konnte man sie nach Kriegsende eines Kriegsverbrechens bezichtigen? So handeln doch keine Menschen. Oder? Petersen hätte die drei mit einem einzigen Federstrich begnadigen können und hätte damit Leben gerettet. So denken wir heute. Aber dem Kommodore und allen anderen war seit Jahren eingeimpft worden: "Auf Fahnenflucht steht der Tod!" Danach richteten sie sich, wie Marionetten ohne Herz. Allein Marinepfarrer Klaus Lohmann litt sein Leben lang darunter, nicht energischer gegen die drohende Exekution vorgegangen zu sein. Sie hätten sich alle, so Lohmann, in einer "militärischen Mühle" befunden und nur unter Zwang gehandelt.

Der 19-jährige Alfred Gayl schrieb wenige Minuten vor seiner Hinrichtung: "Wir sind die letzten Opfer des Krieges, genau so sinnlos wie alle anderen." Am 7. Juli wäre Fritz Wehrmann 90 Jahre alt geworden ...