Karin Haß kam nach Sibirien, um auf einsamen Flüssen zu paddeln. Sie ist geblieben, weil sie sich nicht nur in die Natur, sondern in einen Mann verliebte. Nur noch die Winter verbringt sie allein zu Hause in Hamburg.

Zuerst hat sich Karin Haß in das Land verliebt. Sibirien. Die unendliche Weite der Taiga. Ein Blockhaus am Fluss, der sanft und still vorüberströmt. Das Grün der Birken und Lärchen, das strahlende Herbstlaub, die saftigen Wiesen. Kaum Menschen, keine Autos, keine Werbeplakate. Aber auch keine Bücher, keine Möbel, keine Waschmaschine. Kein Luxus.

80 Menschen leben hier in Srednjaja Oljokma, fast 9000 Kilometer östlich von Hamburg.

Es waren schon immer die nordischen Länder und ihre einsamen Landschaften mit karger Schönheit, die Karin Haß anzogen. Am liebsten ließ sie auf wilden Flüssen ihr Faltboot zu Wasser und paddelte. Mal in einer Gruppe, mal ganz allein. "Ich habe das Gefühl, ganz nahe bei mir zu sein", beschreibt sie ihre Leidenschaft. Das Reiseziel in Sibirien hatte sie sich auf dem Atlas ausgesucht.

1998 kam sie für fünf Wochen mit vier anderen Frauen in die Abgeschiedenheit, fünf Jahre später wagte sie es noch einmal - allein.

Karin Haß (64), aufgewachsen in Dresden, ist eine sportliche Frau, die viel jünger aussieht. Sie hatte als Programmiererin und Systemanalytikerin in Hamburg gearbeitet. Was man gern als bürgerliches Leben bezeichnet, hat sie hinter sich gelassen. "Ich habe eine Tochter und Enkel in Deutschland", sagt Karin Haß. "Das quält mich auch, wenn ich in Sibirien bin. Manchmal komme ich mir egoistisch vor. Aber meine Tochter akzeptiert, wie ich lebe." Natürlich gibt es manchmal Tränen.

Denn Karin Haß ist nicht als Touristin in dem kleinen sibirischen Dorf. Sie lebt hier, drei Viertel des Jahres. Sie hat ihren Job aufgegeben und ist in die Einsamkeit gezogen. Sie hat die russische Sprache gelernt. Sie ist einem tiefen Verlangen gefolgt. "Das sind keine Naturträumereien", sagt sie. Sondern einfach ein anderer Lebensstil.

Und sie hat Slava kennengelernt. Einen sibirischen Pelztierjäger, einen großen, schlanken Mann mit grünen Augen und leicht asiatischen Zügen. Ein Angehöriger der Volksgruppe der Ewenken, mit einer russischen Mutter. "Ich hatte eigentlich ausgeschlossen, mich wieder mit einem Mann einzulassen und schon gar nicht wollte ich wieder heiraten", sagt Karin Haß. Aber aus der täglichen Begegnung in dem kleinen Ort wurde eine Partnerschaft, "die ich so nie vorher erlebt habe - vielleicht gesucht, aber nicht gefunden". Sie trafen sich öfter und lernten einander kennen. Der Jäger und die eigenartige Deutsche. "Er hatte mich gesehen und wusste, ich bin die Frau für ihn. Mich hat es überrascht, dass ich darauf eingegangen bin." Und es funktioniert: "Ich bin tatsächlich glücklich. Ich hatte vorher gedacht, mit einem Mann kann es nur schlechter werden." Tatsächlich gab es abseits zweier völlig unterschiedlicher Lebensentwürfe noch einen dramatischen Punkt: Slava hatte einen schlechten Ruf, er trank wie fast alle Dorfbewohner, als Karin Haß ihn kennenlernte.

Alkohol ist das größte Problem in der Einsamkeit Sibiriens. Die Jäger schießen Elche, Hirsche, Bären, im Winter Zobel, dazu fangen sie Fisch. Sie haben nur ein paar Monate, um die Felle zu verkaufen. Mit den Pelzen verdienen die Jäger nicht mehr viel, die wenigen staatlichen Betriebe wurden nach dem Ende der Sowjetunion geschlossen, Tourismusprojekte entstehen erst - die Region ist einfach zu abgelegen. Im Dorf gab es nach Saufgelagen schon mehrere Zwischenfälle: Ein Mann hat sich erschossen, einer ist in der Jagdhütte verbrannt, ein anderer wurde bei einer Messerattacke schwer verletzt.

Diese Gewohnheit zu brechen, den Alkohol zu verbannen, mit diesem Mann gegen alle Widerstände eine Partnerschaft einzugehen - das war die größte Aufgabe, die Karin Haß in ihrem Leben bewältigen musste. Im Dorf war sie erst die Gute, die Frau aus Deutschland, die sich für Sibirien interessiert. Plötzlich, als sie mit einem Mann zusammenzog, war sie die Schlampe. Und dann der Altersunterschied: Slava ist 40, mehr als zwei Jahrzehnte jünger als seine deutsche Lebenspartnerin, die jetzt seine Ehefrau ist. "Kein Problem", sagt Karin Haß. Manchmal aber überlegt sie schon, was in einigen Jahren geschehen wird: "Schöner werde ich ja nicht." Slava entgegnet dann: "Ich liebe doch nicht dein Äußeres, sondern dein Herz." Wie bei Rosamunde Pilcher.

Hamburg und Sibirien trennt mehr als nur sieben Stunden Zeitunterschied. Die Ursprünglichkeit, der Mangel an westlichem Lebensstandard zwingen die Menschen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. "In Hamburg fühle ich mich wie in einem Hamsterrad", sagt Karin Haß. "In Sibirien habe ich viel mehr Ruhe. Man steht auf, sieht raus, fragt, wie ist das Wetter. Völlig egal, was die Uhr anzeigt."

Als Karin Haß noch in ihrem Hamburger Büro hinter dem Computer saß, hätte sie nie gedacht, einmal eine traditionelle Frauenrolle zu übernehmen und einem Mann den Haushalt zu führen. Und doch ist sie die selbstständige Deutsche geblieben, über die das Dorf immer wieder tuschelt. "Ich bin fleißig, arbeite viel, sitze nicht rum und quatsche." Für die Einheimischen entspricht sie dem Klischee der deutschen Arbeitsamkeit: sauber, ordentlich, perfekt. Keine andere Frau im Dorf würde wandern oder eine Paddeltour unternehmen, schon gar nicht meditieren, Hanteln stemmen oder Filme drehen. "Die finden es seltsam, dass ich nicht fernsehe und keinen Alkohol trinke."

Wie lebt man in Sibirien, wo die Sommer mehr als 30 Grad heiß und die Winternächte minus 50 Grad kalt sind und der Fluss monatelang zufriert? Wo ein Satellitentelefon die einzige Verbindung in die Außenwelt ist, abgesehen von der Post, die einmal im Monat kommt? Wo eine akute Blinddarmentzündung ein lebensbedrohliches Problem wäre, weil der Hubschrauber privat bezahlt werden müsste?

Das Blockhaus aus dicken Baumstämmen hat im Inneren einen 60 Quadratmeter großen Raum. In der Mitte steht ein Ofen, halbhohe Wände aus Holzbrettern teilen den Raum in Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer. An jedem Haus steht eine russische Sauna, dazu ein Schuppen, manchmal eine Garage für ein Schneemobil. Die Menschen jagen - ohne Lizenz, aber der Staat drückt beide Augen zu -, fischen, bauen Gemüse an, wohnen mietfrei, beziehen billigen Strom, holen Holz aus dem Wald. Wasserleitungen gibt es nicht, das Nass wird aus dem Fluss geholt. Zum größten Teil ernähren sie sich aus der Natur. Karin Haß lernte, welche Kräuter im Wald wachsen und wie man sie zubereitet. Sie sammelt Früchte und Pilze, sie kann Brot backen. Mehl, Reis, Nudeln und Öl gibt es in einem kleinen Laden, der einmal im Monat beliefert wird.

Ein Vierteljahr, in der Zeit der grimmigsten sibirischen Kälte, lebt Karin Haß in Hamburg. Ein Kulturschock? "Mag sein, aber ich genieße es in vollen Zügen. Man kann hier so vieles tun - vor allen Dingen für die Bildung." Und doch kehrt sie immer wieder nach Sibirien zurück. Dann taucht sie wieder in die Abgeschiedenheit ein. In das überschaubare Leben in einem Land, in dem niemand die geistige oder seelische Entwicklung eines Menschen für ein Daseinsziel hält. Und in das Leben an der Seite eines Pelztierjägers.

Drei Monate in Deutschland gehen schnell vorbei. Einmal im Monat hat das Paar telefoniert - zu einem vereinbarten Zeitpunkt. Slava war immer pünktlich zur Stelle. Drei 20-Kilo-Pakete hat sie vorausgeschickt, eine lange Wunschliste aus dem Dorf abgearbeitet. Vor allem mit Dingen, die man dort nicht kaufen kann. Hosen, Jacken aus Vlies, Gardinen- und Vorhangstoffe, Kartoffelschälmesser.

Seit Anfang April ist Karin Haß wieder in Sibirien. Schon die Anreise ist ein Abenteuer. Im günstigsten Fall muss sie mit vier Tagen rechnen: Von Deutschland aus landet sie nach zwei Flügen in 24 Stunden in Irkutsk, nach 30 weiteren Stunden erreicht sie mit der Transsibirischen Eisenbahn Mogotscha. Ein Bus fährt 100 Kilometer bis Tupik - wenn er denn kommt. Srednjaja Oljokma ist noch mal 100 Kilometer entfernt.

Solange die Partnerschaft besteht, will Karin Haß in Sibirien bleiben. "Ich kann Slava nicht verlassen." Dass die Beziehung bis heute hält, "grenzt an ein Wunder", sagt sie. Aber dann macht sie sich klar, was sie erst spät erkannt hatte: "Ich bin es, die sein Leben lebenswert macht."

In diesem Sommer will das ungewöhnliche Paar für einen Monat gemeinsam nach Hamburg kommen. Dann lernt der sibirische Pelztierjäger eine westliche Großstadt kennen.

Karin Haß bietet auf ihrer Internetseite www.taigaleben.de betreute Reisen nach Sibirien an. Ende Juni erscheint im NWM-Verlag ihr Buch "Fremde Heimat Sibirien" (250 Seiten, ca. 19,90 Euro).