Ein Riese aus Lehm, der vor Jahrhunderten die Juden in Prag beschützte, taucht in der Wirtschaftskrise wieder auf. Auf T-Shirts, als Karikatur, in Namen von Hotels und Restaurants. Keine Angst, bislang hat ihn niemand wirklich auf den Straßen von Prag gesehen.

Die riesige, ungeschlachte Gestalt mit den glühenden Augen wankte durch das nächtliche Prag; wer ihr in den Schatten des verwinkelten Judenviertels begegnete und Böses im Schilde führte, konnte von dem Koloss zerrissen werden. Der jüdische Mythos vom Golem, einem Monster aus Lehm, ist uralt - eine erste schriftliche Erwähnung findet sich bereits im 12. Jahrhundert. Aber derzeit feiert der Golem in der tschechischen Hauptstadt eine erstaunliche Auferstehung - im Namen von Hotels, Firmen, Lehmfiguren für Touristen (made in China), auf T-Shirts, als Name von Gerichten, auf Speisekarten und neuerdings sogar als Musical.

"Harte Zeiten hauchen dem Golem neues Leben ein", lautete die Zeile über einem ausführlichen Artikel der "New York Times". Denn der Golem gilt als Symbol der Krise, der Bedrohung. Und er steht auch für außer Kont-rolle geratenen menschlichen Ehr-geiz. Somit kann der Golem durchaus als hässliches Gesicht der globalen Krise und eines entfesselten, unkontrollierbaren Kapitalismus angesehen werden.

Die stärkste und überzeugendste Ausformung der Golem-Legende findet sich eben in der tschechischen Version. Danach suchte der aus Worms stammende Rabbi Judah Löw, ein äußerst gelehrter Mann und Experte in der jüdischen Mystik der Kabbalah, die auch eine wirkungsstarke Wortmagie beinhaltet, nach einem Weg, die Juden in Prag vor Pogromen und Nachstellungen zu beschützen.

Rabbi Löw, der tatsächlich von 1525 bis 1609 lebte und großen Einfluss besaß, sah mit Sorge, dass ein katholischer Prediger namens Thaddäus 1580 die Bevölkerung gegen die Juden aufhetzte. Wieder einmal wurde die alte Schauerlüge von Ritualmorden an Kindern ausgegraben, deren Blut die Juden angeblich für ihre religiösen Riten brauchten. Der Rabbi wollte vor allem verhindern, dass Antisemiten tote Babys im Judenviertel ablegten, um eine Rechtfertigung für Pogrome zu fabrizieren.

Am 17. März 1580 soll Löw morgens um vier Uhr zusammen mit seinem Schwager und einem Schüler den Golem aus Lehm vom Moldau-Ufer geschaffen und mit kabbalistischen Zauberformeln zum Leben erweckt haben - als eine Art Bodyguard für das jüdische Getto. Es heißt, Rabbi Löw habe dem Golem einen Zettel am Kopf befestigt, das "Siegel der Wahrheit". Es soll das hebräische Wort für Wahrheit, transkribiert "emeth" enthalten haben. Entfernte man den Zettel, erstarrte der Golem: Entfernte man jedoch nur den ersten Buchstaben, blieb das Wort "meth" übrig: "Tod". Der Golem zerfiel dann - es war eine Art Sicherheitsabschaltung für das Monster. Fortan patrouillierte der Riese aus Lehm durch das Judenviertel und hinderte Antisemiten mit seinen unmenschlichen Kräften an Gewaltakten und auch daran, dort tote Babys abzulegen. Jeweils am heiligen Sabbat nahm Rabbi Löw den Zettel vom Kopf des Golems ab und legte ihn damit still.

Doch einmal vergaß er dies - und der Koloss marschierte los wie ein Kampfroboter und vernichtete alles, was sich ihm in den Weg stellte. Schließlich soll es dem Rabbi gelungen sein, den magischen Zettel zu erreichen und aus "emeth" das Wort "meth" zu machen, in dem er etwas Lehm über den ersten Buchstaben schmierte. Der Golem zerfiel zu einem Klumpen Lehm. Dieser Lehm soll noch immer oben auf dem Dachboden der Prager Altneusynagoge aufbewahrt werden, bedeckt mit einem Gebetsmantel und heiligen Schriftrollen - der Golem könnte also im Fall einer Krise jederzeit zurückkehren. "Wir sagen, dass er dort oben auf dem Dachboden ist", sagt der tschechische Oberrabbiner Karel Sidon über die Altneusynagoge. "Aber ich bin nie dort hinaufgegangen. Es ist durchaus möglich, dass der Golem wirklich existiert." Die Altneusynagoge stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist damit die älteste in Europa; sie wurde nie zerstört.

Rabbi Löw erreichte übrigens bei einer Audienz beim Habsburger Kaiser Rudolf II., mit dem er auf gutem Fuß stand, dass fortan gegen antisemitische Verleumder hart vorgegangen werde.

Der Mythos Golem taucht auch in der deutschen Literatur auf - bei Theodor Storm, Achim von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff. E.T.A. Hoffmann verwendete das Motiv verfremdet. Und der legendäre "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch ging akribisch der Golem-Sage nach. Der Regisseur und Schauspieler Paul Wegener drehte zwischen 1914 und 1920 drei expressionistische Filme über den Golem, die internationale Filmgeschichte machten. Offenbar geht auch Goethes "Zauberlehrling", der sein durch Magie zum Leben erwecktes Besen-Monster nicht mehr kontrollieren kann, darauf zurück. Goethe war die Geschichte bei einem Besuch des Prager Judenviertels erzählt worden. Und auch Mary Shelleys berühmter Roman über das klumpige Monster des Wissenschaftlers Frankenstein hat hier wohl seinen Kristallisationskern.

Im vergangenen Monat besuchte die amerikanische First Lady Michelle Obama das Grab von Rabbi Löw auf dem berühmten jüdischen Friedhof in Prag, der zwischen 1439 und 1787 benutzt wurde und noch heute rund 12 000 verwitterte Grabsteine aufweist. Barack Obamas Frau erwies dem weisen Rabbi und Magier ihre Reverenz, indem sie einen Zettel mit einem Gebet an seinem Grabstein ablegte, der noch immer aufrecht steht. Im September jährt sich Rabbi Löws Tod zum 400. Mal.

Die Prager Theaterdirektorin Eva Bergerova, die ein Stück über den Golem inszeniert, meinte gegenüber der "New York Times", es sei kein Zufall, dass der Golem in Zeiten der Wirtschaftskrise und der Schweinegrippe plötzlich in aller Munde sei: "Der Golem wandert eben in Zeiten der Krise umher. Er ist eine Projektion der gesellschaftlichen Neurosen, ein Symbol unserer Ängste und Sorgen. Er ist das ultimative Krisenmonster."