Wir sitzen auf einer steinernen Treppe, die direkt in den Fluss hinab führt. Drüben hat man filzgraue Wolken zum Trocknen über Stahlkräne gelegt.

Sie sagt: "Als kleines Mädchen ... Weißt du, da musst du dir mich wie eine Art Rotkäppchen vorstellen, nur dass ich keine rote Kappe besaß. Dafür hatte ich eine blaue Wollmütze. Du musst dir mich also als eine Art Blaumützchen vorstellen, mitten im Wald. Ich bin im tiefsten Wald aufgewachsen, aber ganz nah bei der Stadt, und die Wölfe waren meine Freunde. Es gab dort ein ganzes Rudel Wölfe, die ich bald gezähmt hatte, sodass sie auf die Lichtung hinaustraten, auf der unser Häuschen wuchs, und mir das rohe Fleisch aus der Hand fraßen."

"Ah ja", sage ich. "Okay."

Blaumützchen, alles klar.

Ich sage zu allem Ja und Okay, das ist meine professionelle Einstellung. Sie hat mich bei der Agentur Rent A Friend gemietet. Ich verbringe den Tag mit ihr, bin extra aus meiner Stadt in ihre hinübergefahren. Sie hat mich am Bahnhof abgeholt und mir gleich zur Begrüßung den Umschlag mit dem Geld in die Hand gedrückt, den ich jetzt über meinem Herzen trage.

Meine Stadt ist mindestens viermal so groß wie ihre, dafür hat sie allerdings nicht so einen Spielzeughafen mit rostigen Ozeandampfern, die museal auf und ab schippern und große, weite Welt mimen.

"Geschwister?", frage ich.

Auch Interesse und Aufmerksamkeit sind im Preis inbegriffen.

Sie schüttelt die herrlichen schwarzen Haare. "Nein, ich bin ein Einzelkind, leider."

Ich wusste es eh, und das Leider hätte sie sich sparen können. An der Art und Weise, wie sie Grübchen in die engelsrunden Wangen spitzt, kann ich erkennen, dass es ein Genuss für sie war, als Kind im ungeteilten Interesse dazustehen.

"Meine Eltern sind sehr früh gestorben. Ich habe mich quasi selbst großgezogen dort mit den Wölfen im Wald. Komm, lass uns gehen, ich zeige dir meine Welt." Sie springt auf, und ich erklimme hinter ihr die Stufen, die sich weiter oben zwischen bunten Häusern verlieren.

Ehrlich gesagt, sie ist die schönste Frau, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe, es sticht schon eine Weile in meiner Brust unterhalb des Geldes. Sie hat schwarze Haare und glühende Augen, sie lacht wie eine weltöffnende Umarmung, und sie lacht viel. Und trotzdem klemmt da etwas in mir, wenn ich sie ansehe.

Sie nimmt mich mit in eine Bar auf einem Berg, dem einzigen Berg in ihrer Stadt, von dem man in der Senke rote Lichter blinken sieht.

"Ich arbeite hier", sagt sie, "hinter dem Tresen."

Wir betreten die Kaschemme, und richtig, hinter dem Tresen steht sie und lächelt uns zu mit diesen Grübchen, die Schönste der Erde, sie putzt ein Glas und lacht und sagt: "He, schön, dass ihr da seid, setzt euch, was wollt Ihr trinken?"

Ich betrachte die chinesischen Lampen über dem Tresen und den ausgestopften Tiger in der Ecke.

Als ein blassblaues Getränk vor ihr steht, sagt sie: "Ich bin gar nicht so ..." Sie bemüht sich, traurig zu gucken, aber es gelingt ihr nicht recht, es ist das genetische Programm. "Es sieht alles so einfach aus bei mir, so glatt. Aber das bin nicht ich. Ich bin eigentlich anders. Ich kann gar nicht sagen, wie. Irgendwie habe ich mich noch nicht abschließend gefunden."

"Das ist gut", sage ich und bestelle ein weiteres Bier.

"Du trinkst schnell", sagt sie.

"Ich weiß", sage ich. "Stoffwechselprobleme."

Anschließend gehen wir über einen himmelweiten Platz zu einem hohen Bunker hinüber. Sie kickt einen Stein, der zwanzig Meter rollt und dann zielgenau in einem umgekippten Plastikbecher verschwindet. Über dem Platz reiben sich alte Wolken die Hände, die fetten, gelben Bäuche angestrahlt.

"Hier spiele ich heute Nacht mit meiner Band."

"Oh", sage ich, "was macht ihr für Musik?"

Sie zeigt ein nachdenkliches Gesicht: "Schwer zu sagen."

Wir betreten einen weiß getünchten Raum hinter dicken Wänden. Ich bestelle ein Bier, trinken ist in meinem Job erlaubt. Und richtig, da steht sie auf der Bühne mit ihrer Band, drei Jungs und eine zweite schöne Frau in einem roten Kleid, sie selbst trägt jetzt grau und bewegt ihren Leib, als wäre er ihr heute Morgen zum Geburtstag geschenkt oder auf die Seele geschneidert worden, und sie freut sich wirklich, aber sie weiß noch nicht genau, was sie damit anstellen soll und hat Angst, dass sie ihn abnutzt oder kaputt macht, so ein wertvolles Gerät. Die Band legt los, und es ist rhythmisch einwandfreier Funkypop mit deutschen Texten, die Gitarre schwingt geschmackvoll trocken, und der Typ hinter dem Schlagzeug ist füllig und ein absoluter Sympath, ein Energiewunder. Sie singt. Sie singt wirklich gut. Es ist keine Offenbarung, aber es fehlt nicht viel. Ich kann mich gerade noch vom Niederknien abhalten.

Nach den Konzert spricht sie mit ein paar Leuten, dann sagt sie: "Lass uns einen Freund von mir besuchen, er ist ein schräger Typ. Ich glaube, er sieht mich, wie ich wirklich bin. Ein Maler, er hat mich gemalt."

Wir gehen ein paar verwinkelte Straßen weiter, viermal links herum, und betreten eine weiträumige Altbauwohnung mit schwarz gemalten Decken. Ein kleiner Mann mit weißen Haaren und dünnen Beinen steht vor uns. Er hat runde, trübe, übergroße Augen, die unablässig blinzeln. Er trägt schwarze Kleidung und ein Rotweinglas. Wortlos schiebt er uns in einen Raum, in dem die Bilder stehen. Und richtig, auf jedem Bild sie.

"Hm, hm", mache ich, "ah ja, sehr hübsch", dabei verstehe ich nichts von Kunst und nichts von Bildern. Alles, was mir auffällt, ist, dass etwas fehlt auf diesen Bildern. Dem Maler ist es auch aufgefallen, denn er blickt sorgenvoll tief in sein Rotweinglas hinein, das unter seinen Blicken leerer wird.

"Warum?", frage ich, als wir wieder auf der Straße stehen. Der Morgen graut, Menschenmassen drängen auf dem Kopfsteinpflaster rufend, lachend, singend in dieselbe Richtung. "Warum musst du dir einen Freund mieten, für Geld?"

"Tja", sagt sie.

In ihrem Gesicht wird eine Jalousie heruntergezogen.

"Siehst du mich?", fragt sie dann. "Siehst du mich wirklich, jetzt, kannst du mich sehen?"

Ich sage: "Ich weiß nicht."

"Das reicht nicht. Dann ist es das Geld nicht wert."

"Lass uns zu dir gehen. Lass mich deine Wohnung sehen."

"Das geht nicht. Dort darf keiner hinein."

"Nur kurz", sage ich. "Ich bleibe auch nicht, versprochen."

Ihre Wohnung ist wie ein antiker Rosengarten aufgebaut, die Zimmer und die Möbel auf ein geheimes Zentrum hin angeordnet. Das dunkle Parkett ist sorgfältig lackiert. Gleich im ersten Raum hängt über dem Kamin ein großer Rahmen, mit einem Laken verhangen.

Hier wollte ich hin. Ich hatte so eine Ahnung, das bringt der Beruf mit sich.

"Darf ich dahinter schauen?", frage ich.

Sie sagt nichts, und sie lacht auch nicht mehr.

Ich denke darüber nach, ob Grübchen Teil der Wange sind, ob sie unabhängig von der Wange existieren, ob sie eine Wesenheit besitzen, etwas Substanzielles.

"Ich bin vorsichtig", sage ich, "bitte, ja? "

Das hier geht weit über meinen Auftrag hinaus.

Sie sagt nichts, sie zieht sich in die Schatten des Zimmers zurück, in den Schutz der Bäume. Ich trete dichter an den lakenverhangenen Rahmen heran. Der Kamin kuscht. Die Flammen lodern. Ich greife nach dem Laken.

Dann blicke ich in das rauchschwere Glas des Spiegels.

Da bin ich. Da ist das Zimmer. Aber sie ist da nicht.

Ich wende mich um und betrachte die Schatten. Ich belausche die Stille. Ich taste nach meiner Brust und befühle die Konturen des Umschlags.

Alles ist da, wo es sein soll.