Alle reden über den Islam - aber wer redet mit deutschen Muslimen? Interview mit Aydan Özoguz über Religion, Alltag und Erfahrungen.

JOURNAL: Seit den 50er-Jahren leben Muslime in Deutschland, aber erst seit einem Jahr gibt es bei uns eine breite Auseinandersetzung mit dem Islam. Eine große Chance oder ein denkbar schlechter Einstieg?

AYDAN ÖZOGUZ: Es gab vorher schon viele Gespräche und Dialogkreise über den Islam. Aber der 11. September hat natürlich ein riesiges Interesse geweckt. Allerdings kam auch eine Art Lager-Denken auf: Es gibt Gute und Böse, und die Bösen sind jetzt mit einer Religion verknüpft, dem Islam schlechthin. Zum Beispiel kamen Journalisten zu mir und sagten, sie wollten mit der Hisbollah sprechen. Als ich sagte, "die Hisbollah gibt es in Hamburg gar nicht", meinten sie: Aber die muss es hier doch geben! Der 11. September hat das Verständnis für den Islam und all seine verschiedenen Strömungen eher erschwert.

JOURNAL: Bei uns war Religion bisher vor allem Thema, wenn es um die Kirchensteuern ging, um verkaufsoffene Sonntage oder "Was darf die Genforschung?". Welche religiösen Themen regen denn deutsche Muslime besonders auf?

ÖZOGUZ: Über Verwaltungsfragen oder Kirchensteuern wird nicht diskutiert, denn die gibt es im Islam nicht; stattdessen zahlt jeder freiwillig Abgaben an seine Gemeinde. Es geht meistens um die Ausgestaltung der Religion. Zum Beispiel: Wie soll hier das Opferfest gefeiert werden? 'Das Opferfest findet zwei Monate und 10 Tage nach dem Ende des Fastenmonats Ramadan statt, der am Mittwoch begonnen hat.' Da werden Tiere geschlachtet, es ist u.a. gedacht als Speisung für die Armen, die sich kein Fleisch leisten können. Jetzt gibt es Debatten, ob es dabei so blutig zugehen muss oder ob man es anders feiern kann. In der Türkei z.B. wird das private Schlachten zum Opferfest streng reglementiert.

In anderen Fragen regen sich Muslime genauso auf wie Angehörige der christlichen Kirchen, z.B. beim Thema Abtreibung.

JOURNAL: Interessiert es die deutschen Muslime, was die Deutschen glauben, was die Kirchen tun?

ÖZOGUZ: Zu wenig, finde ich. Wer in einer eher deutsch geprägten Umgebung aufwächst, erfährt darüber natürlich mehr als jemand, der für sich in seiner Gruppe bleibt. Ich selbst war als Kind oft in unserem Jugendtreff in der Lutherbuche, der Kirche in Lokstedt, und weil wir uns dort trafen, haben wir auch mal in der Kirche geholfen und sind hineingegangen. Meine Eltern waren da sehr aufgeschlossen. Andere Eltern sähen das vielleicht nicht so gern. Aber es gibt auch eine sehr große Zahl von Deutschtürken, denen die christliche Religion genauso fern ist wie der Islam und die damit nichts am Hut haben.

JOURNAL: Sorgen sich muslimische Gemeinden, dass extreme islamistische Gruppen stärker werden?

ÖZOGUZ: Die Sorge ist eher, dass alle Muslime mit denen gleichgesetzt werden: Weil deren Taten irgendwie "aus einer Religion heraus" kamen, muss also die Religion schlecht sein. Die Masse der Muslime, die völlig friedlich lebt, fühlt sich unter ständigem Rechtfertigungsdruck; sie waren selbst ja total überrascht von der Gruppe um den 11. September. Und man fängt ja nun nicht an, plötzlich allen Menschen in der eigenen Gemeinde zu misstrauen.

JOURNAL: Immerhin sind nach dem 11. September viele Deutsche zum ersten Mal in eine Moschee gegangen.

ÖZOGUZ: Ja, mich hat eine Journalistin begleitet und hinterher gesagt, allein wäre sie dort nie reingegangen. Umgekehrt geht es vielen Muslimen genauso.

Aber wir haben ja in Hamburg das aus meiner Sicht beste Modell, um Kinder und Jugendliche mit anderen Religionen bekannt zu machen: den Religionsunterricht an den Schulen. Alle Religionsgemeinschaften haben sich dafür zusammengesetzt und ein gemeinsames Konzept erarbeitet: Jede Religion wird im Unterricht vorgestellt. Und das Ganze ist freiwillig. An den Schulen hat ein Bekenntnisunterricht nichts zu suchen.

JOURNAL: Gibt es einen Generationenwechsel in muslimischen Gemeinden?

ÖZOGUZ: Ja, die ersten Muslime, die hierher kamen, waren damit beschäftigt, sich zurechtzufinden und überhaupt Leute aus dem eigenen Land, mit derselben Sprache zu finden. Als mein Vater 1959 herkam, hat er lange nach einer Moschee für sein Freitagsgebet suchen müssen.

Die ersten Einwanderergenerationen haben gearbeitet und Religion privat gelebt, sich aber wenig mit dem Umfeld befasst. Heute ist das anders. Es gibt jetzt Gemeinden, es muss Kontakte und Transparenz nach außen geben. Und jetzt gibt es die Jüngeren, die sagen: Unsere Eltern waren lieb und fleißig, aber sie wurden nicht ernst genommen. Wir wollen nicht nur die Gesellschaft mitgestalten, wir wollen auch den Islam anders leben und repräsentieren und verbinden damit Ansprüche. Viele sagen, wir wollen auch nicht das Leben der Deutschen kopieren; die Frauen sind nicht wirklich freier, die Leute mobben sich hier zu viel ... Da gibt es ein neues Selbstbewusstsein.

JOURNAL: In der Türkei gibt es wie bei uns eine explizite Trennung zwischen Staat und Kirche. Dort ist es Schülerinnen und Studentinnen sogar verboten, im Kopftuch zum Unterricht zu kommen. In Deutschland wird aber gerade bei jungen Türkinnen das Kopftuch wiederentdeckt. Warum?

ÖZOGUZ: Ja, das ist ein Phänomen. Ich sehe das in meiner Familie. Meine Mutter trägt kein Kopftuch, ich auch nicht, aber meine zehnjährige Nichte fing plötzlich damit an. Eines Tages beim Essen sagte sie: "Ich will ein Kopftuch." Meine Schwägerin sagte: "Jetzt gibts kein Kopftuch, jetzt wird aufgegessen." Da fing sie an zu weinen. Es war irgendwie absurd. Auch in deutschen Familien finden die Töchter oft Dinge toll, über die die Mütter sich wahnsinnig aufgeregt haben. Aber ich stelle fest: Es gibt gerade bei deutschtürkischen Jugendlichen ein Wiederentdecken von Traditionen und Werten, das sehr bewusst geschieht, aber schwer zu erklären ist.

Wahrscheinlich sagen viele ältere deutsche Frauen: Wir haben hier lange für bestimmte Freiheiten gekämpft. Sie haben noch das alte Bild vor Augen: Da werden türkische Frauen unterdrückt mit dem Kopftuch, und die müssen wir jetzt befreien! Es wird immer Frauen geben, die das Kopftuch einfach hinnehmen. Aber ich behaupte: Die große Mehrheit der türkischen Frauen möchte nicht befreit werden, sondern selbst entscheiden. Die türkische Frauenbewegung hat eben ihr eigenes Gesicht.

JOURNAL: Welchen Wunsch haben Sie für das Miteinander der Kulturen in Deutschland?

ÖZOGUZ: Ich wünsche mir, dass vieles endlich selbstverständlicher wird. Dass es nicht so schwierig ist, einen anderen Namen zu haben. Oder mit einem guten Einkommen, aber einem fremd klingenden Namen eine Wohnung zu finden. Oder dass es in den Behörden mehr Mitarbeiter gibt, die auch Öztürk oder Özoguz heißen oder so ähnlich. Wenn Fernsehmoderatoren Erkan heißen, finden das viele Leute mit der Zeit ja auch völlig normal.

Interview: IRENE JUNG