Ein junger Mann tötet seine kleine Schwester. Was in aller Welt hat das mit Ehre zu tun? ÖZLEM TOPCU verlangt, dass der Begriff “Ehrenmord“ gar nicht erst in unseren Sprachgebrauch gelangen darf. Denn Mord hat keine ehrenhaften Gründe. Was Ehre ist und sein kann und was nicht. Eine EHRENRETTUNG.

Ein 16 Jahre altes Mädchen afghanischer Herkunft ist in Hamburg von seinem eigenen Bruder brutal ermordet worden. Keine 24 Stunden später war die Wortkonstruktion "Ehrenmord" als Schlagwort verankert: Medienvertreter und Politiker benutzten dieses Wort, das ein Unwort ist, genauso wie Mitarbeiter sozialer Einrichtungen und Experten jeder Fachrichtung, um dem Unfassbaren eine Greifbarkeit zu geben. Eine Kategorie. Um dem Sinnlosen nachträglich womöglich einen Sinn zu verleihen?

Halt. Das darf nicht sein!

Wir müssen versuchen, diesen Begriff ein für alle Mal aus unseren Köpfen zu streichen, bevor er Eingang in den Sprachgebrauch findet.

Denn Ahmad O. tötete seine jüngere Schwester Morsal nicht aus ehrenhaften Motiven. Mord hat keine ehrenhaften Motive. Sondern niedere. Mord kann keine positiven Motive haben. Niemals. Nicht bei Ahmad O. Nicht bei Ayhan Sürücü, der seine Schwester Hatun vor drei Jahren in Berlin erschoss. Und die anderen meist männlichen Familienangehörigen, die in Deutschland seit 1996 etwa 40 ihrer weiblichen Familienangehörigen getötet haben. Weil sie einen anderen Lebensentwurf, ein anderes Weltbild verfolgten. Sich "von der Familie abgewendet hatten", wie es dann immer heißt.

Was ist Ehre? Ist sie allen Menschen auf der Welt gleich viel wert? Und warum will sie jeder besitzen? Ehre ist laut Lexikon die einer Person aufgrund ihres Menschseins und der damit verbundenen Würde von Natur aus zukommende Achtung. Und Ehre ist auch die auf einer Selbstachtung beruhende Haltung. Sie ist das Ansehen, das einer Person aufgrund ihrer Stellung, ihrer Lebensführung oder Leistung zugebilligt wird. Die Ansichten darüber sind, wie könnte es anders sein, kulturell verschieden.

Der Zentralrat der Muslime und andere islamische Organisationen und nicht organisierte Muslime bemühen sich momentan, wie im Mordfall Hatun Sürücü, zu erklären, dass ein Mord aus angeblichen Ehrmotiven nichts mit der Religion zu tun habe. Dass es die Tötung eines Menschen aus Ehrmotiven gar nicht geben darf. Dass das Phänomen auch in anderen, nichtmuslimischen Gesellschaften des Mittelmeerraumes wie Griechenland oder Italien vorkomme - und auch dort keine Berechtigung hat. Meist vergeblich bemühen sie sich, dies mit der fünften Sure des Koran zu belegen: "Daher haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben, dass wer einen umbringt, nicht um zu vergelten oder weil dieser Verderben auf der Erde anrichtete, es so sei, als habe er alle Menschen umgebracht. Wer andererseits eines einzigen Menschen Leben rettet, nur einen am Leben erhält, sei angesehen, als habe er das Leben aller Menschen erhalten." (Vers 33). Eine ziemlich deutliche Ablehnung von Mord.

Die jetzt wieder entbrannte Diskussion über das Phänomen "Ehrenmord" kommt ihnen zuvor. Und die Islam-Kritiker erschweren es ihnen, indem sie die vierte Sure nennen, die die Hierarchie zwischen Frau und Mann teilweise sehr deutlich regelt: "Männer sollen vor Frauen bevorzugt werden, weil sie für diese verantwortlich sind, weil Allah auch die einen vor den anderen mit Vorzügen begabte und auch weil jene diese erhalten. Rechtschaffene Frauen aber, von denen ihr fürchtet, dass sie euch durch ihr Betragen erzürnen, gebt Verweise, enthaltet euch ihrer, sperrt sie in ihre Gemächer und züchtigt sie. Gehorchen sie euch aber, dann sucht keine Gelegenheit, gegen sie zu zürnen." (Vers 35). Verirrte Geister, wie Ahmad O. bedienen sich der Regeln, wie es ihnen passt.

So weit die Heilige Schrift, die in einem patriarchalisch geprägten Umfeld vor fast 1500 Jahren entstand und bisher "von den Gläubigen nicht als Produkt einer geschichtlichen Epoche gesehen wird", wie die Hamburger Kulturwissenschaftlerin Dagmar Burkhart argumentiert. "In Mitteleuropa haben wir das Glück, von der Aufklärung, von Denkern wie Immanuel Kant zu profitieren, der den Begriff der Würde als egalitäres Prinzip für alle Menschen prägte", sagt Burkhart.

Das ist gerade mal 200 Jahre her.

Ob Ahmad O. jemals von Immanuel Kant gehört hat, ist zu bezweifeln. Ob er jemals einen Blick in den Koran geworfen hat, in die Heilige Schrift seiner eigenen Religion, ebenfalls. Sicher dagegen erscheint, dass er gar nicht weiß, wofür er seine sieben Jahre jüngere, bildhübsche und kluge Schwester getötet hat.

Und sicher ist, dass er gar nicht weiß, was Ehre ist. Nicht einen Funken davon hat er im Leib.

Ehre ist dem Menschen im Unterschied zur Würde nicht von Natur aus gegeben. Letztere wird durch die Verfassung garantiert. Ehre ist die nach außen getragene Achtung, die das Individuum vor sich selbst hat, weil es mit seiner Lebensführung, seinem Handeln niemandem schadet, rechtschaffen und ehrlich ist.

Und sie ist die Achtung, die aufgrund von Lebensführung, Taten und Leistungen von der Gesellschaft zugebilligt wird. Burkhart, Autorin der Bücher "Ehre" und "Eine Geschichte der Ehre", nennt das "innere" und "äußere" Ehre.

Ahmad hat seine ersten zehn Lebensjahre in Afghanistan verbracht, bevor er 1995 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Deutschland kam. Bis dahin hatte er sowohl den Bürgerkrieg unter sowjetischer Besatzung, als auch die darauf folgende Herrschaft der Taliban bewusst erlebt. Das prägt. Seit Jahren war er immer wieder in Schlägereien verwickelt, wurde vor Kurzem zu einer Haftstrafe verurteilt. Er trank exzessiv, trieb sich in Bordellen herum. Die Gesellschaft, - ganz gleich, ob islamisch oder westlich - nennt das nicht ehrenhaft. Es ist zu vermuten, dass sich der Bodybuilder ohne Schulabschluss auch keine innere Ehre zugestanden hat. Auch, dass er darunter litt. Vielleicht sogar seine Schwester um ihre Ehre beneidete. Insgeheim. Er befand sich in einem Zustand völliger Ehrlosigkeit, ein Ausgestoßener. Die Verteidigung der Ehre seiner Familie war die einzige Ehre, an der er teilhaben konnte - aus seiner Sicht.

Ganz anders dagegen seine Schwester, die kaum Erinnerungen an die Kriege ihres Ursprungslandes hat, die zur Schule geht, wissbegierig ist, mit ihrer Klasse einen Preis für respektvolles und freundliches Miteinander gewinnt. Innere und äußere Ehre werden ihr zuteil. Sie ist in ihrem Umfeld, in ihrer Gesellschaft angekommen. Morsal wird nicht überrumpelt von der bunten Nintendo- und H&M-Welt der Mönckebergstraße, wo Plakate hängen, auf denen Models nur Bikinis tragen. Sie wächst ganz natürlich in diese Welt hinein. Bruder und Schwester leben in zwei völlig unterschiedlichen Hemisphären, die schließlich aufeinanderprallten. Ehrlos prallte auf ehrenwert.

Schade, dass uns die Ehre, von der wir hofften, dass sie uns zuteil wird, die zu erlangen mit harter Arbeit verbunden und dabei so flüchtig ist, immer nur in diesen tragischen und todtraurigen Momenten ins Bewusstsein rückt. Wenn wir unser Verständnis von Ehre und Werten hier in Europa bedroht sehen durch andere.

Morsal war emanzipiert. Das war ein Teil ihrer Ehre. Sie tat, was sie wollte und was sie für richtig hielt. "Sage, was du tust, und tue, was du sagst", heißt es. Das ist alle Ehre wert. Ihr Bruder, ihr Mörder, war nicht emanzipiert. Seine Ehre war längst verloren, das muss ihm bewusst gewesen sein. Aus seiner Sicht, in seiner Welt, die weder islamisch, deutsch noch afghanisch war, konnte er sie nur wieder erlangen, wenn er seine Schwester umbrachte.

Daran hielt sich Ahmad fest: an der vermeintlichen Ehre seiner Familie, die am Ende scheinbar von dem Leben und dem Körper eines 16-jährigen Mädchens abhing. Das Einzige, was dem Gescheiterten noch geblieben war. Ein tragischer Trugschluss. Denn Ehre hat er nie besessen, auch wenn ihm jetzt von Staats wegen die Würde bleiben wird.