Wenn Europas größter Zirkus durchs Land tourt, ist ein ganzes Dorf in Bewegung: Menschen aus 14 Nationen, Nage-, Huf- und Raubtiere leben auf engstem Raum zusammen.

Hamburg. Seit er in einer Männer-WG wohnt, braucht Marjan keinen Wecker mehr. Vier Jahre sind das nun schon. Tag für Tag wird Marjan von seinem Nachbarn auf die gleiche Weise geweckt: Juma klopft rüde an die Zimmerwand. Juma hat Hunger, und Marjan soll gefälligst kommen! Marjan macht das ohne Murren, denn er weiß: Giraffen haben nun mal keine Geduld. Wand an Wand lebt Tierpfleger Marjan Bruder mit seiner Hufe schwingenden Giraffe zusammen. Bruder hat das fünf Meter hohe Tier, das aus einem britischen Safaripark stammt, mit der Flasche großgezogen. Jetzt teilen sich die beiden - mehr Quadratmeter beansprucht natürlich die Giraffe - Heizung, Strom und Wasser im Zirkuswagen Nr. 170. Die Wagenstadt mit dem riesigen Zirkuszelt ist eine Multikulti-Siedlung der besonderen Art: Hier leben nicht nur Menschen aus 14 Nationen, sondern auch Kamele und Raubtiere auf engstem Raum friedlich zusammen. Man kennt sich seit vielen Jahren, und man hat sich in dieser Zeit aneinander gewöhnt. Im Winter bezieht der Zirkus in München sein festes Quartier, in den Sommermonaten reist er von Stadt zu Stadt. Ein ganzes Dorf ist es, das sich dann in Bewegung setzt, Europas größter Zirkus. 19 Zugmaschinen und 330 Wohn- und Gerätewagen rollen über die Straßen der Republik zu den Markt- und Messeplätzen von Aachen und Itzehoe, von Stuttgart und Hamburg. Mal für ein paar Tage, mal für einen Monat lassen sich die Zirkusleute nieder. "Wenn wir vor Ort sind, brauchen wir nur einen Wasseranschluss", sagt Pressechefin Susanne Matzenau. Alles andere bringen sie selber mit: die Käfige und das 16 Meter hohe Zelt, die sieben Kilometer Kabel, die Stromaggregate, Dieselmotoren und Lichtmaschinen. Vier Tage vor der Premiere bauen Angestellte und Saisonkräfte die Anlage auf. "Krone-City" ist eine autarke kleine Stadt mit Schlafstätten für 400 Menschen und Ställen für 250 Tiere. Es gibt einen Bürgermeister, eine Feuerwehr, eine Schneiderei und sogar eine Schule mit fünf Kindern, die nach bayerischem Lehrplan bis zum Hauptschulabschluss unterrichtet werden. In Wohnwagen Nr. 1 wohnt die Chefin des Unternehmens, Christel Sembach-Krone (66), von ihren Leuten ehrfurchtsvoll "die Direktion" oder auch "die Kaiserin" genannt. Sie überwacht alles, vom Tagesbudget (25 000 Euro) bis zum einzelnen Kostüm. Ihr Familienunternehmen gibt es seit 1872. Mit straffer Hand geführt wird es bis heute. Jeder hat seine genau definierte Funktion, seinen Titel, seine Uniform. Der "Sprechstallmeister" macht die Ansagen im Zelt, der Requisiteur fegt die Stühle sauber, der Maler streicht überall nach, wo Farbe abblättert, der Shamponneur seift die Tiere ein und der "Taxidienst" muss den Elefantenmist - den die Tiere auf das Kommando "Shit!" kollektiv produzieren - mit der Schubkarre wegfahren. Ordentlich muss alles gemacht sein, damit es den strengen Blicken der Chefin standhält. Dass die Botschaft ankommt, kann selbst der unbedarfte Besucher sehen: Die Zebras in den Ställen glänzen wie frisch lackiert, die Pferde werden offenbar im Dauereinsatz gestriegelt, an den Kamelen zottelt nichts herum, sogar die Ziegenböcke scheinen auf das arttypische Muffeln zu verzichten. Ein streng geregelter Tagesablauf dient dazu, die Bedürfnisse von Mensch und Tier möglichst reibungslos zu befriedigen. Um 6 Uhr morgens beginnt der Tag mit dem Ausmisten der Ställe und den ersten Fütterungen. Ab 7 Uhr hält Küchenchef Bruno Friedmann 380 Brötchen für die Arbeiter der Frühschicht bereit. Um 8 treffen sich die Abteilungsleiter zu Besprechungen, um 9 beginnt die Büroarbeit. Punkt 10 Uhr öffnen Kasse und Zoo. Die Tiere werden aus den Ställen zu Proben herausgeführt, wobei sich Raubtiere und Vegetarier abwechseln. Die Pferde laufen im Kreis, die Künstler trainieren Balance und Geschicklichkeit. Um 13 Uhr ist Mittagspause. Wenn eine Stunde später Betriebsinspekteur Klaus Lehnart den großen Gong schlägt, besteht für alle Mitarbeiter Anwesenheitspflicht. Der Countdown für die Nachmittagsvorstellung läuft. Nach knapp drei Stunden Show beginnt alles von vorne: putzen, fegen, striegeln und stretchen bis zur Abendvorstellung. Vor Mitternacht wird es nie ruhig auf dem Platz, und oft essen die Artisten erst mitten in der Nacht. Viele Arbeiter teilen sich zu zweit einen engen Zirkuswagen, ihre Angehörigen sind in Tschechien, Rumänien oder Russland geblieben. Andere sind mit Kind und Kegel in die Zirkusstadt gezogen, weil sie bei Krone eine lebenslange Stellung als Hausangestellte bekommen haben. Ein Leben "drinnen", fast klösterlich, mit wenigen Freiheiten wie dem abendlichen Fernsehen via Satellitenschüssel. "Natürlich herrscht hier die totale soziale Kontrolle", räumt Susanne Matzenau ein. "Jeder weiß alles vom anderen. Wer nachts weggeht oder später aufsteht. Es ist wie auf dem Dorf." Der Brite Martin Lacey (25), Löwendompteur in zehnter Generation, kann sich kein anderes Leben vorstellen. "In jedem anderen Beruf würde ich verrückt. Die Raubtiere sind meine Familie, sie brauchen mich rund um die Uhr." Urlaub nimmt er nie, für eine Freundin hat er keine Zeit. Warum auch. Wenn Löwenmann Casanga sich an ihn schmiegt, dann möchte Lacey nur eines: "Solange Dompteur sein, bis ich 60 bin und die Löwen mich jagen." Zirkus Krone Sommertournee 17.9. - 16.10., Hamburg Heiligengeistfeld. Vorstellungen: werktags 15.30 und 20 Uhr, Sonn- und feiertags: 15 und 19 Uhr. Zoo: tägl. ab 10 Uhr. Karten 8 - 27 Euro unter Tel. 0180 /52 47 287 oder AK. Es gibt einen Bürgermeister, eine Feuerwehr, eine Schneiderei und sogar eine Schule mit fünf Kindern und bayerischem Lehrplan.