Hippie-Revival, Sixties-Tapeten, Ostalgie, Biografie-Boom: Retro ist die Lust am Gestrigen und am Wiedererkennen. Obwohl früher auch nicht alles besser war. Warum brauchen wir den liebevollen Blick zurück?

Wer, bitte, hat sich bloß die Farbkombination Babyrosa-Lehmbraun ausgedacht? Die war vor 30 Jahren topmodisch. Warum, habe ich schon damals nicht begriffen. Heute hängen Jacken und Bluse in Rosa-Braun wie Wiedergänger in den Schaufenstern - und werden gekauft! Tja, ist eben "Retro". Dieser Begriff tauchte in der Trend- und Marktforschung zum ersten Mal in der Mitte der 90er-Jahre auf. Heute ist Retro einer der wichtigsten Konsumtrends bei Menschen zwischen 14 und 60 Jahren, übrigens auch in Großbritannien, Frankreich, Dänemark und den USA.

Wir scheinen in einer einzigen großen Retro-Blase zu leben. Im Versandhandel gibt es Omas Wasserkocher im knubbligen 50er-Jahre-Design. Der Ratgeber "Party-Hits der 60er" hilft Ihnen bei Schnittchen-Klassikern wie Fliegenpilztomate und Pumpernickeltürmen. Sogar um längst ausrangierte Computermodelle wie den Commodore 64 (Kosename "Brotkasten"), an dem in den 80ern eine ganze User-Generation sozialisiert wurde, schart sich eine treue, weltweite Fangemeinde. Sie hat auch ihre alten PC-Lieblingsspiele wie "Turrican" oder "Uridium" für neue Rechner wiederbelebt.

Unschlagbar faszinierend ist offenbar das Hippie-Revival. In den USA leben Neo-Hippies wieder in Landkommunen, bärtige Folkmusiker wie Devendra Banhart werden herumgereicht wie der junge Bob Dylan. 50-Jährige ärgern sich, dass sie ihre Batikröcke und Ethnoblusen vor 30 Jahren entsorgt haben - die stehen jetzt wieder ganz hoch im Kurs. Wenn ich meine Doors-, Creedence-Clearwater- und JJ-Cale-Platten zum Flohmarkt bringen will, gibt es zu Hause vom Nachwuchs Protestgeschrei: "Die doch nicht!"

Die DDR ist zu einem eigenen, riesigen Reliquien-Sammlermarkt mutiert. Auf Internetseiten wie www.osthits.de oder www.ostprodukte.de bestellen Interessierte nicht nur Plaste-Eierlöffel, Interflug-Taschen und FDJ-Hemden, sie können auch die DDR-Nationalhymne hören, DDR-Witze und -Begriffe nachlesen; zum Beispiel "Getränkestützpunkt" oder "Komplexannahmestelle".

Für Westler ist das eher skurril und ergötzlich, für Ex-DDR-Bürger jedoch eine anrührende Wiederbegegnung mit dem Altvertrauten wie etwa dem Mufuti (Multifunktionstisch), der durch den Film "Sonnenallee" unsterblich wurde. Nur dass diesmal nicht die Partei dazwischenredet.

Ostalgie verklärt oft die "goldene DDR-Zeit". Aber Retro muss nicht immer Verklärung heißen. Noch nie gab es so viele Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Feder von 35- bis 45-Jährigen wie heute. Rocko Schamoni erinnert sich in "Dorfpunks" an die Unvereinbarkeit von Landleben und Rebellion. Heinz Strunk hat jahrelang in einer Tanzkapelle gelitten ("Fleisch ist mein Gemüse"), Adriano Sack erlebte "schwer erziehbare 68er-Eltern" ("Heimreise"). Allesamt keine unkritischen Rückblicke auf die 60er- bis 80er-Jahre. Für junge Leute gab es noch Nischen zu entdecken. Man musste sie nur finden.

Und selbst wenn man damals der Dorftristesse entfliehen wollte oder an Ich-tu-nur-so-Lehrern scheiterte: Die Prilblumen in der Küche, Hans Rosenthals "Dalli Dalli", Flokati-Teppiche, die alten Opel, Hörspiele und Krimis waren doch auch irgendwie schön. Übrigens, "Gestatten, mein Name ist Cox" gibt's jetzt auch auf DVD.

Für die skandinavische Designforscherin Maria MacKinney erfüllt Retro viel mehr als nur Konsumbedürfnisse. Was wir darin suchen, erklärt sie so:

Neue Moden und "angesagte" Produkte überschwemmen uns immer schneller, das Verfallsdatum von Stilen wird immer kürzer. Deshalb sehnen wir uns nach "einfacheren" Zeiten.

Die Postmoderne sondert erbarmungslos Marken aus, mit denen wir groß wurden; deshalb wollen wir "die Geschichte ins Heute transportieren" - zum Beispiel mit Grundig-Plattenspielern oder Pünktchen-Cocktailkleidern.

Weil die Globalisierung immer mehr gefälschte Markenprodukte hervorbringt, wird das Usprüngliche, Echte für uns besonders wertvoll.

Und schließlich, moniert MacKinney, reagiert der Retro-Trend auf einen "Mangel an Innovation": Recycling sei heute verbreiteter als neue Ideen. In der Mode, aber auch in der Politik.

Vielleicht kommen also in zehn Jahren nicht nur Nickipullover und Opas Sonntagsfrack wieder in Mode, sondern auch alte Parteiprogramme etwa aus den 50ern. Wundern würde es mich nicht.