72 000 Autos und 1500 Lkw fahren täglich vorbei, aber 50 GRAUGÄNSE stört's nicht: Ihr Quartier liegt an einer Kreuzung mitten in Hamburg.

Sie ist meine Lieblingskreuzung in Hamburg. Wunderschön gelegen, direkt an der Alster. So heißt auch eine der Straßen, die diesen Kreuzungsbereich bilden. In der Verlängerung wird sie zum Schwanenwik, davon geht die Sechslingspforte ab. Sie trennt St. Georg von Hohenfelde. Die Kreuzung ist groß und laut, aber irgendwie auch schön.

Direkt vor der Kreuzung An der Alster gibt es eine Verkehrszählstelle. Hier wurden zuletzt 72 000 Pkw und 1500 Lkw erfasst. Täglich. Und dann rollen da noch jene Fahrzeuge vorbei, die in die andere Richtung abbiegen oder aus ihr kommen. Die Kreuzung ist ein Nadelöhr für Pendler, drei bis sechs Fahrspuren voller Autos. Und mittendrin sechs grüne Inseln: Verkehrsinseln, bepflanzt mit Ampelanlagen, Richtungsweisern, Verkehrszeichen aller Art auf kurzem grünen Rasen. Den Abgasen trotzen hier Linden, Eichen, ein Ahorn und eine große wilde Pflaumenart zwischen den Masten. Und diese sechs Inseln bergen ein Geheimnis.

Etwa 50 Wildgänse haben hier seit Jahr und Tag Quartier bezogen. Warum tun sich wild lebende Tiere so etwas an? Die prächtigen Alsterwiesen sind nur einen Steinwurf entfernt. Aber es müssen Verkehrsinseln sein! Den Schnabel haben die Gänse immer in Auspuffhöhe, ein Hupkonzert direkt neben ihrem Schlafplatz. Und täglich droht das Gänseklein. Anser Anser , die Graugans, ist schon ein merkwürdiges Geschöpf. Aber auch ein mutiges.

So viel Chuzpe muss man erst mal haben: im fließenden Verkehr des Schwanenwik Inselhüpfen betreiben, allein oder im Gänsemarsch. Da bekommt man als Beobachter schon Gänsehaut.

Aber es funktioniert! Die Autos halten, wenn Gefahr droht. Manche hupen, aber sie bremsen und warten oder fahren ganz vorsichtig um die Hasardeure herum. Und wenn es mal zu gefährlich wird, treten Freiwillige spontan in den Dienst als Verkehrskasper oder Gänselotsen und versuchen das Chaos zu minimieren. Alster-Jogger greifen ein oder auch die Polizei im Vorbeifahren: aussteigen, Gänse zurückscheuchen, weiter. Zum Wohl der Tiere oder für den Verkehrsfluss? Diese Staus werden im Verkehrsfunk nicht erwähnt.

Und dann ist es doch noch passiert. Ein Zusammenprall. Dieses Fahrzeug war wohl zu hoch oder zu hell oder die Gans zu langsam oder zu vollgefressen mit dem leckeren Verkehrsinselgras. Auf jeden Fall war der Steigflug von der Hauptinsel zum Alsterwasser nicht perfekt eingeleitet. Ein Geräusch wie von einem Ball, der gegen eine Metalltür getreten wird. Mehr "Dongg" als "Plopp": Weiße Daunenfedern wirbeln durch die Luft und landen am Straßenrand. Die Unfallgegner entschwinden in verschiedene Richtungen. Der weiße Döner-Transporter stadtauswärts, die Gans muss auf der Außenalster notwassern. Anscheinend aber ohne große Schäden. Später kehrt die Gans mit anderen Tieren auf eine der Verkehrsinseln zurück. Zum Schlafen. Ganz cool.

Es klingt unglaublich, aber das Geheimnis der sechs Inseln scheint die Ruhe im tosenden Verkehr zu sein. Olaf Nieß (39), Revierjagdmeister der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt und besser bekannt als Hamburgs Schwanenvater, hat eine Erklärung: Auf den Inseln stören keine Hunde, keine Jogger, keine Radfahrer oder Spaziergänger. Die Gänse können sich nach allen Seiten absichern, der Takt der Ampelschaltungen ist berechenbar. Sie haben ihre Ruhe.

Nieß kennt die Kreuzung mit den Gänsen genau. Häufig rufen besorgte Menschen an und melden das Spektakel auf der Straße. Aber offenbar besteht kein Grund zur Sorge. Dem Schwanenvater sind keine für das Geflügel tödlich verlaufenen Unfälle bekannt.

Alle haben sich offenbar aneinander gewöhnt. "Es funktioniert einfach", sagt Nieß. "Alles läuft."