Wenn Paare lange zusammen sind, kommt ihnen fast zwangsläufig "die Erotik abhanden". Solche Geschichten hatte die Psychotherapeutin Esther Perel , 48, allzu oft gehört, wenn ihr ratlose Frauen und Männer gegenübersaßen: "Wir lieben uns doch, warum haben wir bloß keine Lust mehr aufeinander?" Über ihre Erfahrungen schrieb sie jetzt ein Buch: "Wild Life" (Pendo Verlag). Perel ist in New York verheiratet und Mutter zweier Söhne (11 und 13 Jahre).

JOURNAL: Erwarten wir zu viel von unserem Partner?

ESTHER PEREL: Es sieht so aus. Heute erwarten wir von ihm das, was früher eine ganze Dorfgemeinschaft geleistet hat: Er soll Lebenspartner sein, Geld verdienen, Familie mitgestalten, bester Freund, Vertrauter und leidenschaftlicher Liebhaber sein.

JOURNAL: Ist der Sex gut, wenn die Beziehung gut ist?

PEREL: Nicht unbedingt. Das eine hat mit dem anderen nicht automatisch zu tun. Viele Paare können gut kommunizieren, haben aber wenig erotisches Verlangen; oder aber sie können nicht miteinander reden, haben aber tollen Sex. Den Satz würde ich umdrehen: Wenn der Sex gut ist, wird die Beziehung besser.

JOURNAL: Was ist guter Sex?

PEREL: Der Sex, den Sie am Anfang hatten, als Sie neugierig aufeinander waren, als Sie sich noch fremd waren und Distanz überwinden mussten, als Sie sich trauten zu experimentieren. Als sie sich lebendig fühlten und aufregend.

JOURNAL: Was tun wir mit unserer unterdrückten Lust?

PEREL: Wir stecken sie in Arbeit, in Pornografie, in Sport - und in die Kindererziehung. Eltern spielen, küssen, umarmen, sind unermüdlich kreativ - aber nicht füreinander, sondern für die Kinder.

JOURNAL: Lässt die Lust mit der Zeit zwingend nach?

PEREL: Es ist nicht die Zeit per se, die die Lust reduziert. Sondern indem die Liebe wächst, reduziert sich - als unerwartete Konsequenz - das Verlangen. Liebe ist nämlich selbstlos, kümmert sich um den anderen. Das Verlangen dagegen ist egoistisch und braucht Freiheit. Das ist kein individuelles Problem, sondern ein existenzielles.

JOURNAL: Wie kriegen wir das aufgelöst?

PEREL: Partner denken oft, dass Intimität bedeutet, jedes Detail voneinander zu wissen. Gleichzeitig beklagen sie den Verlust des Geheimnisvollen. Wenn Sie mehr Leidenschaft wollen, müssen Sie Unsicherheit aushalten. Sie können nicht Ihren Partner völlig vereinnahmen, ihn mit Ihrem Alltagskram überschütten und dann erwarten, dass Sie abends noch neugierig aufeinander sind.

JOURNAL: Entsteht Erotik spontan oder muss man sie planen?

PEREL: Jede Lust ist Vorsatz. Was Sie sich nicht vorgenommen haben, das passiert auch nicht. Ich rate: Nehmen Sie sich Zeit und Raum. Zeit, die zu nichts anderem da ist als zu Ihrem Spaß. Dann kann alles passieren, auch Sex. Versuchen Sie, Ihren Partner mit fremden Augen zu sehen. Besinnen Sie sich darauf, dass Sie den anderen nie ganz kennen werden. Viele Frauen haben mir erstaunt berichtet, wie toll sie ihren Mann fanden, als sie ihn einmal in einem anderen Umfeld gesehen haben, ob im Job, bei einem Auftritt oder bei einem Business-Lunch.

JOURNAL: Hilft fremdgehen?

PEREL: Eine Affäre ist gefährlich. Sie kann den Kick geben, aber auch der Todesstoß einer kränkelnden Beziehung sein. Männer suchen in Affären oft eine Frau, die weniger kritisch ist, Frauen einen Mann, den sie nicht bemuttern müssen; Ihr erotischer Spielraum soll aber nicht die Realität sein, sondern die Fantasie: Der erotische Geist ist unabhängig und wild. Wenn Sie sich allerdings nicht trauen, ihn miteinander leben zu lassen, brauchen Sie sich auch nicht über den Stillstand zu wundern.

PEREL: Was tun Sie persönlich, und: Gibt es noch Hoffnung für Gemütlichkeits-Paare?

PEREL: Jedes Jahr mache ich einmal mit jedem Sohn und einmal nur mit meinem Mann Urlaub. Zu viert mit dem Auto in die Ferien fahren ist, auch wenn es die meisten tun, nicht wirklich eine gute Idee. Ansonsten kann ich nur sagen: Das Verlangen kommt schnell zurück, wenn man Abstand hält. Verlangen hat mit Sehnsucht zu tun. Dieselbe Frau, die ihren Mann jahrelang nicht begehrt hat, kann auf einmal völlig auf ihn fliegen, wenn sie aufhört, ihn wie ein altes Sofa zu betrachten.

Mehr Infos im Internet: eperel@earthlink.net; jacksoul@mac.com