Um gute Songs zu schreiben, “mußt du brennen!“ Billy Joel hat lange einen anderen Brand gelöscht. Aber seine jüngsten US-Konzerte zeigen: Er ist einfach ein Vollblut-Rock-'n'-Roller. Am 29. Juni spielt er in Hamburg seine größten Hits.

Der Soundcheck verwirrt: Don Henley singt "The Boys Of Summer", dann klingt glasklar der Eagles-Hit "Hotel California" durch das riesige, leere Wachovia-Center in Philadelphia, gefolgt von Procol Harums "A Whiter Shade of Pale" mit Gary Brookers unverkennbarer Stimme - dabei sollen hier doch eigentlich Billy Joel und Band den Tontechnikern Gelegenheit geben, alles perfekt auszusteuern!

Erst ein konzentrierter Blick ins Halbdunkel auf der Bühne bringt Gewißheit: Der Mann dort am Flügel, bekleidet mit Tennisschuhen, Jogginganzug, weißem Schal und Baseball-Kappe, ist wirklich der, den sie nach einem seiner größten Hits überall so gern den "Piano Man" nennen. Billy Joel röhrt noch ein paar Nummern von Led Zeppelin, Joe Cocker und den Beach Boys, freut sich diebisch über die perfekten Imitationen, flachst die Musiker an und singt dann doch einen eigenen Song. Aus "Honesty" wird dabei allerdings "Sodomy is such a lonely word . . .", und das Ganze mündet in dreckiges Gelächter.

Billy Joel hat beste Laune. Das zeigt auch die Tatsache, daß er ausnahmsweise einen Reporter zur Tonprobe zugelassen hat, bevor er sich vor dem Konzert noch Zeit für ein Gespräch in entspannter Atmosphäre nimmt. Gute Laune aus guten Gründen: Die Tournee läuft in den USA erstklassig, zwölf ausverkaufte Konzerte im 19 000 Besucher fassenden New Yorker Madison Square Garden (Mitte Juni erscheint als Zusammenschnitt die Doppel-CD "12 Gardens Live") und fünf in der Arena in Philadelphia (18 000 Plätze) sind nur zwei Beispiele.

Auch in Europa erwartet man ihn sehnsüchtig - wenn Billy Joel am 29. Juni in der Hamburger Color-Line-Arena spielt und drei Tage später in Frankfurt, sind das die ersten Auftritte in Deutschland nach zwölf Jahren. Und die einzigen.

Zwölf Jahre, in denen nicht viel Neues von ihm zu hören war: ein paar zuvor unveröffentlichte Songs auf mehreren Greatest-Hits-Kompilationen und das belanglose, aber erfolgreiche Klavier-Klassik-Album "Fantasies & Delusions" (2001). Darauf greift Billy Joel allerdings nicht mal selbst in die Tasten, sondern ließ seine Kompositionen von Richard Joo einspielen.

Alles vorbei also mit "It's Still Rock 'n' Roll To Me", ist der 1979er Hit nur noch Schnee von vorgestern? "Der Rock 'n' Roll und ich, wir sind wie ein altes, sehr lange verheiratetes Ehepaar", sagt Joel grinsend. "Wir schlafen noch zusammen, aber der Sex ist . . . nun ja, nicht mehr so spannend. Es hängt ja auch immer davon ab, was sie dabei trägt." Er trägt auf dem Kopf überwiegend Glatze, im Gesicht Spuren seines nicht immer gesunden Lebenswandels, und ist gerade 57 geworden. "Mal im Ernst: Ich liebe den Rock 'n' Roll immer noch, aber ich bin müde geworden, solche oder Pop-Songs zu komponieren. Ich verspüre eine große Wanderlust (Anm. d. Red.: So lautet auch das englische Wort) , ich habe einfach mehr Interesse daran, andere Musik zu schreiben." Was buchstäblich zu verstehen ist: "Irgendwann hat es mich frustriert, Texte zu formulieren. Ich will Klänge statt Worte sprechen lassen." So komponiert er, der gern auf seine komplette klassische Ausbildung verweist, seit ein paar Jahren Themen und Fragmente, von denen er nicht weiß, was aus ihnen wird: "Vielleicht sinfonische Stücke, vielleicht Filmmusik, vielleicht auch ein Broadway-Musical."

Die Anmerkung, daß ein derart reduzierter kreativer Output ja auch ein Symptom von Ideenarmut sein könnte, ein Hinweis darauf, daß er ausgebrannt ist, läßt Billy Joel nicht gelten. "Songs nur zu schreiben, weil das Publikum und die Plattenfirma das erwarten oder weil man Geld braucht, ist zu wenig. Man muß aus tiefstem Herzen dafür brennen, absolut motiviert und leidenschaftlich bei der Sache sein. Und man muß so arrogant sein zu glauben, daß der Rest der Welt hören will, was man zu sagen hat. Früher dachte ich, jede meiner Ideen sei ein goldener Gedanke und unglaublich wichtig. Aber diese Arroganz habe ich nicht mehr."

Vielleicht hat er auf Grund zeitweiliger Alkohol-Probleme aber auch einfach nicht mehr das Songschreiber-Potential von früher, als erfolgreiche Alben wie "Piano Man" (1973), "Turnstiles" (1976), "The Stranger" (1977), "52nd Street" (1979), "An Innocent Man" (1983) oder "Storm Front" (1989) mit teils genial getexteten Titeln wie "Say Goodbye To Hollywood", "Just The Way You Are", "Uptown Girl" oder "We Didn't Start The Fire" immer wieder Furore machten - unterbrochen freilich von ein paar kommerziellen und/oder künstlerischen Flops.

Billy Joels Management hat für das Gespräch in Philadelphia die Problembereiche seines Privatlebens zur Sperrzone erklärt, aber der Musiker spricht ansatzweise auch ungefragt darüber. Zum Beispiel erzählt er von einem Konzert vor ein paar Jahren, bei dem er "den größten Kater der Welt hatte. ,Vergiß jetzt bloß den Text nicht', habe ich mir immer wieder eingetrichtert und keine überflüssige Bewegung gemacht, weil mich der Kopfschmerz fast umbrachte. Ich war wirklich nicht besonders gut an diesem Abend, aber das Publikum war begeistert. Die Leute waren großartig, sie haben mir vergeben. Wegen dieses Konzerts habe ich aufgehört zu trinken; so wollte ich mich nicht noch einmal fühlen!"

Es bedurfte aber trotzdem einiger Aufenthalte in Suchtkliniken - zuletzt im März 2005 -, bis Billy Joel das Thema Alkohol endlich in den Griff bekam. Bekommen mußte, wie er weiß: "Früher konnte ich auch krank auftreten, mich irgendwie durch die Show kämpfen. Das geht heute nicht mehr; ich muß für jedes Konzert absolut gesund sein."

Er ist gesund. Sein Publikum in Philadelphia ist begeistert - und durchsetzt mit einem erstaunlich großen Anteil an jungen, textsicheren Menschen. Etwa ein Viertel der 18 000 Besucher dürfte kaum älter als 20, also deutlich nach seinen größten Hits geboren sein, aber sie singen jeden Song mit: den aufrüttelnden Opener "Angry Young Man", "Pressure", die lokalen Hymnen "Captain Jack" (eine Radiostation in Philadelphia hatte den Titel 1972 immer wieder gespielt und so zu einem Underground-Hit gemacht) und "Allentown" (eine Kleinstadt in der Nähe Philadelphias), "River of Dreams" - und auch den AC/DC-Brüller "Highway To Hell", den der Gitarren-Roadie als komische Einlage bringt.

Billy Joel, inzwischen ganz in lässig-elegantes Schwarz gekleidet, sitzt am Flügel und läßt den Worten aus dem Interview ("Bei jedem Konzert bis zur totalen Erschöpfung verausgaben, so muß es sein!") Taten folgen. Er singt mit einer auch in den Höhen so vital, kraftvoll und mit klarer Stimme, daß jede Skepsis, jeder Zweifel an seiner Fitness verfliegt. Die erstklassige Band - mit den meisten Musikern spielt Joel schon eine halbe Ewigkeit zusammen - rockt die Arena, und als Billy mit dem Mikroständer tanzt wie ein Junger, wird klar: It's still Rock 'n' Roll to him. Hamburg kann sich auf ein großes Konzert freuen.

Billy Joel 29. 6., 20.00, Color-Line-Arena, Karten von 66,40 Euro bis 140 Euro u. a. im Abendblatt-Center, Caffamacherreihe 1, T. : 040/303 73 20, in den bekannten Vorverkaufstellen sowie unter www.eventim.de; Internet-Links zum Thema: www.sonymusic.com/ artists/BillyJoel/; www.piano-man.de; www.joelfan.com/