Gesellschaftskunde mit Musik

Der Gestank von hastig gefüllten und noch hastiger geleerten Bierbechern, abgeschmeckt mit Tabakschwaden und Schweiß, wird auch diesen Sonnabend wieder durchs "Uebel & Gefährlich" wehen - das ist der giftige Atem des Rock 'n' Roll, der auch in diesem neuen Klub das Leben erst lebenswert macht, dazu der Charme von Beton, Marke Unkaputtbar. Rock 'n' Roll? Falsch, das ist Hochkultur! Feuilleton! Denn auf der Bühne steht die Hamburger Band "Blumfeld".

Schon Wochen, bevor das sechste "Blumfeld"-Album erschien, spitzten Musikkritiker und Deutschrock-Fans Federn und Ohren. "Blumfeld" gelten seit der Gründung 1990 als die Intellektuellen der deutschen Independent-Szene und Mastermind Jochen Distelmeyer als Vordenker.

" Und der Staat ist kein Traum/ist sogar in meinen Küssen/ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen/und Welt verwaltender Zustand ." An solchen Zeilen interpretieren Generationen von Geisteswissenschafts-Studenten herum. Und Verse wie " Wir sind politisch und sexuell andersdenkend " können sich Bürgerkinder mit linker Attitüde unbedenklich auf die Buttons schreiben. Schon zur zweiten "Blumfeld"-Platte "L'Etat Et Moi" titelte das Musikmagazin "Intro" 1994, sie liege zwischen einem "Meilenstein deutschsprachigen intelligenten Pops und postpubertärem Twentysomethings-Output".

Das neue "Blumfeld"-Album "Verbotene Früchte" fordert nun die Fabulierkunst der schreibenden Zunft erst recht heraus. Denn das Quartett hat sich erlaubt, neben Systemkritik auch beatleske Songs mit Naturmetaphern zu komponieren. "Aber sonst geht's gut, Jochen?" fragt da die "Süddeutsche Zeitung" besorgt - angesichts von Texten wie " Er ist der Apfelmann, er ist der Apfelmann, baby ". Der "Rolling Stone" erinnert ironisch an Kohls "Blühende Landschaften", die "Zeit" wählt die schlichte Kochbuch-Zeile "Für den Apfelkuchen", der "Tagesspiegel" verweist nicht auf Brehms, sondern auf "Diestelmeyers Tierleben".

Ein paar Wochen zuvor hatten sich die Feuilletons aller namhaften Tageszeitungen republikweit noch auf die Hamburger Band "Tomte" gestürzt. Oper, Klassik, Literatur, Etat-Debatten, die Diskussion um Niveau oder Niveaulimbo des deutschen Theaters, alles rückte in den Hintergrund für "Tomte"-Tourvorberichte, "Tomte"-Konzertnachberichte, "Tomte"-Platten-Kritiken, "Tomte"-Interviews, also für die Welt von Bier; oder, um es mit einem "Tomte"-Songtitel zu sagen, von "Korn und Sprite". Überschriften in der "Süddeutschen" hießen da nicht mehr "Auch auf der lieben Erde ist es unvergleichlich schön" (über Opernregisseure), sondern "Hauptstadthass! Hauptstadthass! Ficken oder was? Ficken oder was?" (über "Tomte").

Warum ist das so?

Hamburger Bands wie "Blumfeld", "Tocotronic" und "Die Sterne" prägen nicht nur lokal, sondern landesweit die Musikszene jenseits des Mainstreams, gerade weil sie nicht ausschließlich Wert auf ohrwurmkompatible Songstrukturen, glasklar gesungene Töne und saubere Akkorde legen. Ihren Unmut über Kommerz und Konventionen, Konformismus, Konfessionen und Kapital schütten sie wie schales Bier über die ehrenwerte Gesellschaft: " Nein, eure Suppe esse ich nicht/Schon lieber mache ich haufenweise Miese/und fahr' die neu gekaufte Karre auf die Wiese./Daß es Dresche gibt dafür, war immer klar./Die lachen sich doch tot,/wenn sich so 'n Typ wie ich beschwert " ("Die Sterne").

Die Musik von "Tocotronic" wurzelt im US-Grunge-Rock, "Blumfeld" klingt eher britisch und "Die Sterne" mehr nach rauhem Soul. Doch sie werden als gemeinsames Phänomen gesehen. Denn sie singen deutsch, sind kritisch und ähneln sich auch im Kleidungsstil: Secondhand-Klamotten oder -Anzüge, die sich mit ihren engen Schnitten vom Banker-Outfit abheben. Im englischsprachigen Raum wäre ihnen einfach das Etikett "Independent" aufgedrückt worden. Doch da die Bands alle zwischen Elbe und Alster leben, einigten sich hiesige Medien etwas hilflos auf den Begriff "Hamburger Schule".

Als lokalpatriotische Vorzeige-Pennäler taugen die Musiker allerdings nicht. Zum einen wegen des kollektiven Nicht-Einverstanden-Seins und zum anderen wegen ihrer Herkunft.

Der Witz an der Sache: Die Bands, die Mitte der 90er mit Ach und Krach in die Schublade "Hamburger Schule" gepackt wurden, kommen ursprünglich allesamt aus Bad Salzuflen. Aus der ostwestfälischen Provinz setzte eine Art Generalumzug gen Norden ein. Bernd Begemann veröffentlichte 1987 an der Elbe seine erste Platte mit der Band "Die Antwort". "Die Sterne" um Sänger Frank Spilker sowie Jochen Distelmeyer und Bernadette Hengst, die einzig hervorstechende Frau der Bagage, folgten nach. Mit ihrer Frauen-Kombo "Die Braut haut ins Auge" vertonte die Sängerin in Songs wie "Das dramatische Kind" grandios weibliche Widerspenstigkeit.

Sie alle gingen in die "Hamburger Schule". Und wer später dazureiste, schrieb ein Lied darüber: " Ich bin neu in der Hamburger Schule/Und lern' kein Griechisch und kein Latein/Und trotzdem scheint mir die Hamburger Schule/'Ne Eliteschule zu sein ", witzelte der aus Freiburg stammende "Tocotronic"-Sänger Dirk von Lotzow. Auch die seit 20 Jahren aktiven Hamburger Elektro-Punker "Die goldenen Zitronen" zählten plötzlich ebenso zu dieser Kategorie wie die Klang-Ästheten "Kante" - und sei es nur, weil deren Vordenker Peter Thiessen mal Bassist bei "Blumfeld" war.

Natürlich hatte diese einseitige Betrachtung auch Vorteile: Wer sich ein Album von "Tocotronic" kaufte, mußte förmlich auf weitere Künstler der Szene stoßen. So bildete sich ein Netzwerk von Fans, nach und nach landeten die Bands in den Charts, in Musikmagazinen, in den Feuilletons. Intelligente Hamburger Popmusik ist kein Kurzzeit-Phänomen, kein schneller Trend. Album folgt auf Album, neuere Gruppen wie "Kajak" und "Kettcar" stoßen dazu.

Die dazugehörigen kleinen, aber hoch angesehenen Plattenfirmen wie "What's So Funny About", "L'Age D'Or", "Tapete Records" oder "Grand Hotel Van Cleef" geben dem Nachwuchs, nicht nur aus Hamburg, eine Chance, plazieren kleinere Acts wie "Ollie Schulz und der Hund Marie" im Vorprogramm ihrer Zugpferde, organisieren CD-Veröffentlichungspartys und feiern Erfolge, während den Branchenriesen trotz ihrer Madonnas und U2s der Umsatz stetig einbricht.

Dieses größer werdende, langsam am Mainstream andockende Paralleluniversum entwickelt sich fortwährend weiter. "Hamburger Schüler" der zweiten Generation wie "Tomte" ziehen nach Berlin. Und der Schrammelrock der Gründerzeit, das vertonte "Du kannst mich mal", ist durchdachten Arrangements gewichen - und mehr Idylle. Auch das ist provokativ.

Mancher Anhänger aus alten Tagen macht denn auch in Internet-Foren seinem Ärger Luft: Als "Kommerz", "Verpoppung", "Ausverkauf" wird die Tatsache bemängelt, daß die gepflegten Dilettanten von einst heute erfolgreiche Könner sind.

" Du flehst in Telefone/mit zum Himmel gereckter Hand/Ein passionierter Mensch/in einem mediokren Land ." Derart mit Pathos vollgepumpte "Tomte"-Texte sind nicht nach dem Geschmack jener, für die auch das Private politisch ist. Prompt wird "Tomte" gar "Deutschtümelei" vorgeworfen. "Im ,Du bist Deutschland'-Popsegment hat man einen guten Platz erobert zwischen all den anderen musikalitäts- und talentfreien Existenzen", höhnt Wiglaf Droste über "Tomte" in der "taz".

Diese Debatte hat Tradition. Als Heinz Rudolf Kunze Mitte der 90er Jahre forderte, in den Radiosendern müßte eine Quote für deutschsprachige Gruppen eingeführt werden, bügelten "Die Sterne" das Ansinnen mit " Ich scheiß auf deutsche Texte " ab. "Tocotronic" antwortet auf der aktuellen Platte mit dem schon geflügelten Wort " Aber hier leben? Nein danke! "

Das ist natürlich der Knaller für die Feuilletons: Gute, erfolgreiche Popmusik, angenehm zu hören und doch provokant genug, um sich einen abzudebattieren. England spült Monat für Monat eine Band nach der anderen in die Welt, die einfach nur rocken , und keinen stört's. Deutsche Bands allerdings - da schlägt der alte Geniegedanke zu - werden mitunter wichtiger genommen, als ihnen lieb ist. Und so rauscht es dann im Blätterwald.

Auf der anderen Seite: Die Feuilletons atmen Bierdunst, die "Süddeutsche Zeitung" schreibt das Wort mit "F" - das macht Spaß. Pop ist nicht tot. Und die Bands wollen doch nur spielen. Oder, um mit "Blumfeld" zu sprechen: " Alles macht weiter/die Nacht und der Morgen/der Abschied von gestern/die Freuden und Sorgen/die Zwiebeln in Kühlschrank/Alles macht weiter."