Von Bestsellern zu den Top 10, von der Streichliste zur Sporttabelle: Unser Alltags-Wissen wird zunehmend listifiziert. In schneller Folge erscheinen Bücher, die bunte Wissens- schnipsel handlich verpacken - Wichtiges oft völlig ungeordnet neben Blödsinnigem. Wie kam es zu diesem Listenwahn? Sind Listen ein Hilfsmittel im Informationschaos unserer Zeit oder einfach nur ein herrlicher Spaß und Zeitvertreib?

"Wissen nennen wir jenen kleinen Teil unserer Unwissenheit, den wir geordnet und klassifiziert haben." Ambrose Bierce

Müssen wir wissen, wie die zehn betörendsten Blasinstrumente heißen? In welchen zehn Landkreisen die reichsten Rentner leben? Oder welche Prominenten im Bett arbeiteten?

Müssen wir nicht (aber wenn Sie wollen, schauen Sie ans Ende dieses Textes). Nur schön, daß es Menschen gibt, die uns die Arbeit abnehmen und das endlose Wissen handlich in Listen verpacken. Der Fernsehpionier Robert Lembke brachte es einmal auf den Punkt: "Ich wickele den Lebertran der Information in die Schokolade der Unterhaltung, damit er sich leichter schluckt."

Keine "Tagesschau" ohne Listen. Ob es um zähe Koalitionsverhandlungen geht, um Sportwettkämpfe oder um besonders grauenhafte Unglücke - alles will, wenn nicht eingeordnet, so doch wenigstens sortiert sein. Da gibt es rote Listen, schwarze Listen, bunte Listen, grün-alternative Listen; aber auch Einkaufslisten, Fahndungslisten, Strich- und Streichlisten, Wartelisten und Rekordlisten.

Der amerikanische Mann vertieft sich, wenn er morgens seine Tageszeitung durchblättert, in einen Sportteil, den seitenweise Statistiken, Tabellen und Ranglisten durchziehen: Über jeden Baseball-Pitcher (Werfer) muß man einfach wissen, wieviel gegnerische Schläge oder Läufe er zugelassen hat.

Solche Menschen, mag man denken, räumen auch gern ihre Schubladen auf oder sortieren ihre Bücherborde und Plattensammlungen alphabetisch, wenn nicht gar nach Farben oder Größe. Und muß, wer so etwas verschlingt, nicht auch zu den Stammlesern des Telefonbuchs oder Bahnfahrplans gehören?

Der Blick auf die wöchentliche Bestseller liste macht klar, daß unsere Gesellschaft ihr Alltagswissen zunehmend listifiziert. "Information ist der Kitt der Gesellschaft", sagt der US-Forscher Norbert Wiener. Fast wöchentlich erscheint ein neues Buch, in dem solche Fakten oder Aufzählungen liebevoll ausgebreitet werden. Auf Schotts Sammelsurium folgten Ringels Randnotizen, Christine Brincks "Bestes von allem" und als Kompendium "das Große Buch der Listen". Wir bekommen Antworten auf Fragen, die wir nie zu stellen gewagt hätten. Hätten Sie geahnt, daß Billy the Kid unter den erfolgreichsten Revolverhelden des Wilden Westens nur auf Platz zehn liegt (vier Tote in 16 Schießereien), an der Spitze aber ein gewisser Jim Miller (12/14)? Goethe wußte, warum er verzweifelt suchte: "Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen."

Die BBC nannte die Listmania "eine Sucht des neuen Jahrtausends" und hält sie für ein lebenswichtiges Werkzeug, mit dem sich die Menschen "in dieser chaotischen Zeit" zurechtfinden können.

Am 4. Januar 1936 veröffentlichte das Billboard-Magazin in den USA die erste Hitparade, vier Jahre später gab es die ersten Charts. Seither werden Bestseller und Ranglisten für Bücher, Filme, DVDs, aber auch für Hochschulen, Krankenhäuser und Wellnessanlagen erstellt. Wissensmagazine in Fernsehen und Zeitschriften erwecken den Anschein, man könne mit dem Fortschritt schritthalten. Heinz Maegerlein erfand schon vor 50 Jahren in seinem Ur-Quiz "Hätten Sie's gewußt" die Rubrik "Was man weiß, was man wissen sollte". Sendungen wie Günther Jauchs "Wer wird Millionär" gaukeln den Zuschauern vor, auch eine gesunde Halbbildung könnte zu einem Geldsegen verhelfen. Die Frage nach dem deutschen Bond-Girl (Karin Dor) ist 125 000, die nach der ersten Goldenen Schallplatte (Glenn Miller) sogar eine Million Euro wert.

Das Buch, mit dem 1977 in Amerika alles begann, war das "Book of lists" der Geschwister David Wallechinsky und Amy Wallace. In den Neunzigern ist es völlig neu überarbeitet erschienen und in diesem Jahr auch in einer deutschen Ausgabe: "Das große Buch der Listen". Die Autoren verlegen die Erfindung des Listen-Genres noch weitere 300 Jahre zurück: 1678 gab Reverend Nathaniel Wanley die "Wonders of the Little World" heraus, ein Buch mit - Listen! Wer will, kann noch weiter zurückgehen: die zehn Gebote stehen schließlich schon in der Bibel. Am Anfang war die Liste.

Wir aber dürfen, frei nach Newton, fröhlich im "Ozean des Nichtwissens" fischen. Die Daten- und Bilderflut aus dem Internet verlangt geradezu nach System. "Die Wahrnehmungen sind so gewaltig, daß wir eine Struktur brauchen, um ihnen einen Sinn zu geben", sagt der britische Psychologe Andrew Evans - und führt den Trend auf archaische Eigenschaften zurück: "Der Mensch als Herdentier hat ein Verlangen danach, Dinge einzuordnen. Die Nähe zum Stärksten erhöhte die Überlebenschance."

Ein Listenbastler, der etwas auf sich hält, wählt heute aber keine Suchmaschine an, sondern setzt sich in Bibliotheken oder Staatsarchive. Allerdings müssen Faktensammlungen wie das Guinness-Buch der Rekorde oder die englischsprachige Fundgrube "Top 10 of Everything" alljährlich aktualisiert werden. Weil die Halbwertszeit solcher Tabellen immer kürzer wird, verlagert sich das Interesse auf die subjektiven Listen.

US-Talkmaster David Letterman hatte schon in den Achtzigern mit seinen nächtlichen Top-10-Listen das richtige Gespür ("zehn Gründe, woran Sie feststellen, daß George W. Bush wieder trinkt"). Nick Hornby führte die Listen in die Gegenwartsliteratur ein: "Die anderen hatten Meinungen, ich bloß meine Bestenlisten", sagt sein Rob in "High Fidelity". Zum Beispiel seine fünf besten ersten Stücke auf einer LP: "Janie Jones" (Clash), "Thunder Road" (Springsteen), "Smells Like Teen Spirit" (Nirvana), "Let's Get It On" (Marvin Gaye) und "Return Of The Grievous Angel" (Gram Parsons). Benjamin Stuckrad-Barre hält seine zusammengegoogelten Schnipsel "Was.Wir. Wissen" für Literatur. Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen pflichtet ihm bei: "Listen sind ein immenses literarisches Mittel."

Der bunte Strauß, den Sammler wie Ben Schott oder Michael Ringel auf den Markt werfen, mag völlig überflüssig sein, und doch findet jeder in diesem Potpourri interessante Kleinode. Was aber ist daran so reizvoll, was macht Lust auf Listen?

Professor Peter Wippermann vom Hamburger Trendbüro sagt: "Listen sind eine ganz natürliche journalistische Form. Sie geben Orientierung. Die Form der Liste ist praktisch: Man kann sich anschließen oder sie ablehnen. Damit hat man eine eigene Position. Eigentlich handelt es sich um Abfallprodukte der Vernetzungstechnik von Computern - dadurch entstehen Rankings aller Art. In den USA spricht man von Listonomics ."

Die Verlagerung hin zu ganz persönlichen, subjektiven, fast privaten Listen, das sogenannte Tagging , stammt aus der MP3-Kultur. Da wird Musik nach persönlichen Maßstäben ausgetauscht. Wippermann: "Man hat das Gefühl, diese subjektiven Prioritäten gut akzeptieren zu können. Man überspielt sich mal eben per Bluetooth seine persönliche Adressenliste. Das ist die private Antwort auf die Unübersichtlichkeit des Alltags. Empfehlungen von Freunden sind wichtiger geworden als jene in Zeitungen oder Ratgebern."

Christine Brinck ("Das Beste von allem") findet: "Der Ordnungssinn der meisten Menschen schreit nach Listen." Das Prinzip, Wichtiges und Blödsinniges total ungeordnet zu mischen, wie es Ben Schott vorexerziert, nennt sie "bizarr". Allerdings sei es "kein Kunststück", Listen lieblos herunterzuschreiben. Brinck, die Listen von Claudius Seidl oder Ulrich Greiner, Hellmuth Karasek oder Benjamin Franklin sammelte, meint: "Die privaten Vorlieben oder Abneigungen bekannter Mitmenschen machen neugierig." Wippermann nennt solche Listen von Prominenten den "Celebrity-Faktor". Der sei wichtig für Leute, die meinen, sie müßten so leben - die Bunte- oder Gala -Konsumenten.

Auch Michael Ringel, Autor der "Randnotizen", bestätigt die Gründe für die Listenmanie: "In dieser unübersichtlichen Welt hätten die Menschen gern etwas Konkretes." Ihm kommt es allerdings darauf an, "daß Listen Witz haben und Spaß machen, vielleicht trifft diese Spielform gerade den Nerv der Zeit". Ein Ende ist nicht abzusehen. Ringel bringt im April gleichzeitig sechs neue Büchlein auf den Markt, gegliedert nach Themenbereichen wie Lust und Liebe oder Film und Fernsehen.

Wie geht es weiter? Trendforscher Wippermann glaubt, daß bald keine Ziffern, sondern nur noch Ergebnisse geliefert werden könnten: "Interessant ist nur noch, wer gewinnt, wer verliert. Sieger sind gefragt - und: Wer ist nicht auf der Liste?"

Im übrigen, findet Christine Brinck, sei die ganze "Listerei" nur ein Spiel, das nicht viel Zeit erfordert: "Die Bücher muß man nicht durchlesen. Sie liegen auf dem Klo oder auf dem Nachttisch. Heute lese ich drei Listen, morgen keine."


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Falls Sie es noch wissen wollen: Zu den betörendsten Blasinstrumente zählen Bombardon (Baßtuba), Clairon (Bügelhorn) und die Lure aus der Bronzezeit. Die reichsten Rentner leben in Baden-Baden, Koblenz und Regensburg. Und im Bett arbeiteten gerne Ludwig XIV., Leonardo da Vinci und Kardinal Richelieu.

Michael Ringel: Ringels Randnotizen. Fischer Tb., 240 Seiten; 8 Euro .

Christine Brink (Hg.): Das Beste von allem. Rowohlt Tb., 312 Seiten; 10 Euro .

Amy Wallace, David Wallechinsky: Das große Buch der Listen. List, 384 Seiten; 14,95 Euro .

Russell Ash: Top 10 of everything (engl.); Dorling Kindersley, 256 Seiten; ca. 18 Euro .