Die Zwanziger. Das Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg steht für den großen Aufbruch der Deutschen. Die ARD dokumentiert eine Ära zwischen Chaos und Hoffnung, Armut und Dekadenz.

Hamburg in den Zwanziger Jahren: Die Bürgermeister der neuen Millionenstadt heißen Sthamer, Diestel und Petersen. Baudirektor ist (immer noch) Fritz Schumacher. Viertel wie die Jarrestadt und der Dulsberg entstehen, 1924 wird das Chilehaus gebaut. Die Fleete erhalten ihre heutige Gestalt. Elf Alsterbarkassen werden zu Wasser gelassen. Automobile verdrängen die Pferdekutschen aus dem Stadtbild.

Die Goldenen Zwanziger. Ein Schlagwort, das erst in der Nachkriegs-Bundesrepublik erfunden wurde. Bilder drängen sich auf: Lange Schlangen vor den Bankschaltern. Koffer voller wertloser Geldscheine. Voluminöse, hochbeinige Limousinen. Politiker mit Zylindern. Sportler in Reih und Glied. Frauen mit neckischen Kurzhaarfrisuren. Atlantikflieger Charles Lindbergh. Und kritische Gesellschaftssatiren von Kurt Tucholsky.

Es ist die Zeit der Weimarer Republik zwischen den Kriegen, die Zeit des Aufbruchs aus dem Mief der Kaiserzeit. Carl Zuckmayer schreibt von "gestauten Kräften, die sich nach dem Zusammenbruch des alten Reichs ungedämmt in alle Richtungen auswirkten". Ein Tanz auf dem Vulkan.

Die ARD schließt jetzt eine Lücke. Die zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft sind bis ins letzte Detail ausgeleuchtet - von Hitlers Feldherren bis zu seinen Frauen. Aber die Zeit davor? Eine dreiteilige Dokumentation zeichnet zwischen dem 10. und 19. Oktober das spannende Jahrzehnt nach - als historische Begleitung der neuen Doku-Serie "Sommerfrische", die Großstadtmenschen von heute in das Leben des Jahres 1927 eintauchen läßt.

Helfried Spitra, Leiter des Geschichtlichen Arbeitskreises der ARD, sagt dazu: "Die Zwanziger Jahre sind eine Zeit voller Widersprüche, voller Dynamik, voller Extreme. Es gab eine sehr starke Linke, eine sehr starke Rechte, hohe Arbeitslosigkeit und Verzweiflung, also den Nährboden für die folgende Katastrophe." Diese Jahre, so Spitra weiter, "waren aber auch eine enorme Blütezeit. Damals ist viel eingestürzt auf die Leute." Salopp gesagt: "Da ist die Post abgegangen."

Die Gegensätze in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sind dramatisch. Das Land liegt am Boden. Selbst eigentlich wohlhabende Familien leiden Hunger, stellen sich mit Lebensmittelkarten für ein Achtel Marmelade oder ein Viertel Butter an. 14 von 100 Kindern sterben kurz nach der Geburt. Lebertran und Höhensonne sollen die Entwicklung der Mangelernährten unterstützen. Zeitzeugin Gerda Lott (Jahrgang 1914) erinnert sich: "Mein Vater und sein Bruder haben auf dem Feld die Nester der Hamster ausgegraben. Da hatten die eine Handvoll Getreide gesammelt, das haben wir dann gegessen - und die armen Hamster wurden totgeschlagen."

Zweimal in diesem Jahrzehnt stehen Millionen vor dem Nichts. Zunächst, als die Inflation jede Banknote über Nacht zu wertlosem Altpapier macht und die Notenpressen rund um die Uhr Nachschub drucken: Hunderttausend Mark werden zu Millionen, Billionen, Trillionen. Dann, noch einmal, als 1929 der schwarze Freitag an der New Yorker Börse die Weltwirtschaft mit sich reißt.

Unter diesen Umständen soll es einen Aufbruch geben? Und wie! Es scheint, als hätten sich die Menschen dankbar die Fesseln des Kaiserreichs abgestreift. Der Verlust aller Gewohnheiten und Sicherheiten löst eine Dynamik und Vielfalt aus, die das Land so noch nie erlebt hatte. Die Menschen genießen die Möglichkeiten der Technik, die Illusionen der Massenmedien und den freien Geist ihrer Propheten.

Das Kino boomt. Jeder Saal in den neuen Lichtspielpalästen nach Hollywood-Muster ist meistens bis auf den letzten Platz besetzt. Auf der Leinwand spielt sich nach dem Ende der Zensur Skandalöses ab: nackte Tatsachen, zunächst noch ohne Ton. Die unterdrückte Gefühlswelt der Kaiserzeit bahnt sich mit unbändiger Lust auf Orgien ihren Weg. Die Ufa nutzt die Gunst der Stunde und wird zu Europas größter Filmgesellschaft. Filme von Lubitsch, Murnau und Lang werden Kassenknüller, Schauspieler wie Emil Jannings, Greta Garbo oder Marlene Dietrich werden Stars, sind erstmals auf Zigaretten-Sammelbildchen zu sehen.

Das Radio bringt die Welt ins Haus, die Familie sitzt mit Kopfhörern rund um den Empfänger. "Radio? Wir wußten zunächst gar nicht, was das ist", sagt Zeitzeuge Franz Scherer (Jahrgang 1913), "konnte man das essen oder was? Ich hörte ,Cosi fan tutte' - da habe ich mir sofort ein Textbuch gekauft." Die ambitionierten Hörspiele der gebührenfinanzierten Sender fallen durch, die Leute wollen lieber Musik hören, am liebsten Operetten mit Richard Tauber. Die Musik gibt Deutschland einen ungewohnten Schwung. Aus Amerika schwappt der Jazz herüber, Charleston wird Modetanz. Das Glitzern der Unterhaltungsindustrie ist das Gold der Zwanziger, die Dekadenz einer Elite, die weiten Teilen des Volkes verschlossen bleibt. "Die Stadt glich einem Irrenhaus", beobachtete Erich Kästner.

Die Kirchen verurteilen die neue Lebenslust, die da propagiert: raus aus Mief und Enge, ab die Natur! Während Wandervögel und andere Gruppen mit tragbaren Grammophonen ("Zwitschermaschinen") Volkstänze und Volkslieder pflegen, sammeln sich die ersten Hippies und frühe Aussteiger um Wanderprediger wie Muck-Lamberty, die sich als "junge Heimatsucher, Heimatgestalter, und -Erhalter" verstehen. Der Begriff "Freizeit" entsteht. Männer tauschen ihre Badeanzüge in Stoffbadehosen. Das amerikanische Ideal der individuellen Sportlichkeit konkurriert mit den Massen-Leibesübungen in Reih und Glied.

Die Technik fasziniert und verunsichert zugleich. Künstler feiern die Maschine als Ideal einer neuen Welt ("Metropolis"), die Gewerkschaften, die für Acht-Stunden-Tage streiten, warnen vor seelenlosen Maschinenmenschen. Deutschland gilt als Land der Erfinder, sammelt naturwissenschaftliche Nobelpreise. Elektrogeräte erleichtern die Hausarbeit in der modernen "Reformküche", die Hausfrau übernimmt die Rolle einer "Kücheningenieurin". Kaum vorstellbar: Licht, Türklingel, Selbstwähltelefon sind noch nicht die Regel.

Die Rolle der Frau verändert sich dramatisch. Kurze Haare drücken ihr neues Selbstbewußtsein aus. Zeitzeugin Dorothea Kränzlin (Jahrgang 1911) berichtet vom familiären Streit über den Gang zum Friseur: "Am Abend kam meine Mutter ans Bett und sagte: Du darfst! Aber du darfst nicht sagen, daß du es weißt." Zwar feiert 1923 erstmals der Muttertag die traditionellen Werte der Familie, doch die Verlockungen heißen: "Komm ins Grüne, Caroline!" Kunstseidene Strümpfe zeigen Bein, Hüte verlieren die Strenge. Frauen rauchen - und sie dürfen wählen und gewählt werden. "Ich will nicht den ganzen Tag hinter der Schreibmaschine sitzen", sagt die moderne Frau, "ich möchte mein Leben genießen." Sie spricht über Sex und Verhütung. Sie legt in Damenclubs Männerkleider an, sie studiert in Großstädten lesbische Stadtführer. "Es war die Befreiung der Frau, der Beginn der Emanzipation", sagt Helfried Spitra. "Auch deshalb haben wir heute eine Kanzlerkandidatin."

Weil der Trend von der Groß- zur Zwei-Kinder-Familie geht, ist schon damals von den Deutschen als "aussterbendes Volk" die Rede. Noch vertrauter erscheint uns die wirtschaftliche Situation - und die Reaktionen darauf. Das Hartz IV Weimars waren die Notverordnungen, mit denen Reichskanzler Brüning die Wirtschaft wiederbeleben wollte: Lohnkürzungen, niedrigere Lohnnebenkosten und längere Arbeitszeiten.

Aber ist ein Vergleich angesichts der Vorgeschichte überhaupt statthaft? ARD-Mann Spitra sagt: "Man kann die Zeit nicht 1:1 vergleichen. Heute haben wir einen ganz anderen Sozialstaat. Wir haben ein vereintes Europa. Damals gab es eine Ansammlung von Nationalstaaten. Wir leben in Mitteleuropa seit 60 Jahren ohne Krieg. Unsere schlimmsten Visionen sind noch besser als die Zustände von damals."

Auch in den Zwanzigern ist die Gesellschaft gespalten - zwischen lebendigen Städten und dem kargen Land, zwischen Republikanern und Monarchisten. Die Beisetzung der letzten Kaiserin Auguste Viktoria 1921 ist gleichsam ein prunkvoller Abschied von der Monarchie.

Als sich die Politik auf die Straße verlagert und Tucholskys Charakterisierung "Marschieren ist die deutscheste aller Gangarten" bestätigt, naht das Ende der Republik. Nach Hitlers Machtergreifung mögen sich viele über das Ende von Armut und Arbeitslosigkeit gefreut haben. Für andere hat ein neuer, weit schlimmerer Albtraum begonnen.

Die Zwanziger Jahre. Dreiteilige ARD-Dokumentation: 10. Oktober, 21.45 Uhr; 17. Oktober, 21.45 Uhr; 19. Oktober, 21.45 Uhr.

Abenteuer 1927 - Sommerfrische. ARD-Doku-Serie ab 11. Oktober, di-fr jeweils 18.50 Uhr.