Wenn Windstärke sechs in die knapp 5000 Quadratmeter Segelfläche des Clippers schießt, ist Jürgen Müller glücklich. Sein Bruder Klaus auch - auf einem anderen Clipper. Beide gehören zu den letzten deutschen Hochsee-Segelkapitänen. Sie sind Zwillinge.

Jürgen und Klaus Müller, beide 68, sind Zwillinge. Sie gehören zu den letzten deutschen Kapitänen auf Großseglern, haben sogar denselben Arbeitgeber, den schwedischen Reeder Mikael Krafft, und segeln seine berühmte Clipperflotte. Jürgen ist in karibischen Gewässern auf der "Royal Clipper" unterwegs, derzeit das größte Segelschiff der Welt und ein Nachbau der alten "Preußen". Klaus steuert die "Star-Flyer", einen Viermaster, durch die Gewässer Südostasiens.

Unterschiedlicher als die Müllers könnten Zwillingsbrüder nicht sein. Klaus Müller hat an Bord immer flotte Sprüche auf Lager, unterhält die Passagiere mit seinem Dudelsack und vollzieht auch Trauungen auf hoher See. Jürgen Müller-Cyran hingegen wirkt sachlich und nüchtern. Er ist ein Experte für Seefahrtsliteratur und kennt Marine-Antiquariate auf der ganzen Welt.

"Wir gehören leider zu den letzten deutschen Kapitänen auf Großseglern", sagt Jürgen Müller-Cyran. "Es ist kein Nachwuchs in Sicht." Deutsche Seefahrtsschulen müßten schon den Lehrbetrieb reduzieren, weil sie nicht genug Anmeldungen hätten. "Dabei hat die deutsche Seefahrt eine unglaubliche Geschichte und Tradition." Er hält Vorträge im Flensburger Schiffahrtsmuseum und hat zum 425jährigen Bestehen im März eine Rede über die Entwicklung der Seefahrt bis heute gehalten. "Ich muß leider sagen, daß sich kaum einer mehr für die Seefahrt interessiert. In der Öffentlichkeit ist sie hauptsächlich präsent bei Ölverschmutzungen, Schiffsuntergängen oder Katastrophen."

Schwer zu verstehen eigentlich. Gibt es keine Abenteurer mehr? Läßt sich die große weite Welt heute viel bequemer mit Billigfliegern erobern?

Kapitän zu sein ist allerdings ein harter Beruf. Der Schiffahrtsexperte Jochen Brennecke schrieb über den klassischen Kapitän in seinem Buch "Windjammer": "Der Kapitän ist nicht nur der erste Nautiker eines Schiffes, nicht nur das, was man an Land einen Diktator nennt, es ist mehr in seiner Pflicht und Verantwortung für das Schiff, dessen Ladung und Leben an Bord; er ist das, was wohl die Briten am treffendsten nachempfinden lassen, wenn sie sagen, er ist ein ,Master next to God'". Klingt etwas pompös, hat aber einen wahren Kern. "Ein Kapitän steht 24 Stunden am Tag in der Verantwortung, sowohl den Passagieren als auch dem Reeder, der Besatzung und den Behörden gegenüber", sagt Klaus Müller. Reeder Mikael Krafft stellt hohe Ansprüche an seine Kapitäne: "Ich will, daß sich jeder einzelne Passagier wie auf seiner eigenen Yacht fühlt." Seine Kapitäne sucht er nicht nur nach Können und Zuverlässigkeit, sondern auch nach "Charakter" aus.

Das ist eine enorme Herausforderung, denn praktisch bedeutet es, daß die Brücke offen ist für jeden Passagier. Die Kapitäne lassen sich über die Schulter schauen. Aber nicht auf die Schulter klopfen: "Wir wahren eine respektvolle Distanz", sagt Jürgen. "Und bei kritischen Manövern sperren wir die Brücke auch ab."

Die legendären Segelkapitäne zu Zeiten der alten "Preußen" (Reederei Laeisz) hatten noch andere Prioritäten als ihre heutigen Kollegen. Damals ging es darum, möglichst schnell über die Weltmeere und um das gefürchtete Kap Hoorn zu kommen, damit die Reedereien ihre Waren termingerecht liefern konnten. Heute geht es um die Sicherheit der Passagiere, um das Segelerlebnis und auch darum, die Route einzuhalten, die von vielen Landgängen der Passagiere bestimmt ist.

"Ein Kapitän ist heute eine Art moderner Manager, der die Besatzung im Griff hat, den Passagieren Spaß an der Segelei und den Großschiffen vermittelt. Seine Brücke ist eine Art Büro, auf der alles zusammenläuft", sagt Klaus Müller.

"Es gibt keine Kapitäne, die Wissen überliefern oder aufschreiben", sagt sein Bruder Jürgen. "Ich habe in den Chroniken der alten ,Preußen' nie einen Hinweis darauf gefunden, wie das Schiff gesegelt wurde." Eine überraschende Erkenntnis. Aber das sei oft so bei Erfahrungswissen, meint er. "Wahrscheinlich spielt auch die Angst mit, daß unsere Entscheidungen nicht immer die besten sein könnten. Wir nehmen unseren Beruf sehr ernst. Aber ob eine Entscheidung richtig war - das stellt sich oft erst viel später heraus."

Jürgen lebt mit seiner zweiten Frau in Glücksburg und genießt zwischen zwei Törns ein paar Monate an Land, bevor es ihn wieder aufs Meer zieht. "Meine Frau, die auch gerne segelt, war oft auf den Clipper-Schiffen dabei. Doch als Kapitän verändere ich ganz schnell meine Persönlichkeit: An Bord spielt das Schiff die erste Geige, meine Frau ist nicht mehr der Mittelpunkt. Das versteht sie zum Glück sehr gut. Ein Kapitän darf sich nicht ablenken lassen, weil es sehr viel öfter kritische Situationen gibt, als man denkt."

Die bespricht Jürgen Müller nur mit seinem Bruder Klaus. "Ich rufe ihn an und erkläre ihm, was mir gerade passiert ist."

Er erzählt von solch einer kritischen Situation. "Der zweite Offizier an Bord war betrunken und setzte die ,Royal Clipper' nachts auf Sand. Es ist nichts weiter passiert, aber es war eine sehr bittere Sache, nur wenige Seemeilen entfernt wäre die Situation wesentlich schlimmer ausgegangen. Solche Dinge bespreche ich nur mit meinem Bruder. Weil wir in tiefster Seele eins sind. Ich spüre, wenn er in Not ist, umgekehrt ist es auch so."

Klaus lebt mit seiner zweiten Frau Helena in Schottland, führt manchmal Touristen durch das Schloß Inverary und ist im Kirchenrat der Presbyterianischen Kirche engagiert. Mit 59 Jahren hat er sich taufen lassen. Dort tankt er Kraft: "Ich liebe es, mit Schafen und Schäfern zusammenzusein. Schafehüten ist etwas sehr Irdisches."

Die Brüder, am 7. Oktober 1936 in Darmstadt geboren, können sich ein Leben ohne Meer und Schiffe nicht mehr vorstellen. Schon als Kinder sind sie im Kanu auf Binnengewässern nach Bremerhaven gepaddelt, wenigstens in Nähe des Meeres. Kurz vor der Mittleren Reife flatterte ein Prospekt der Schiffsjungenschule in Travemünde daheim in den Briefkasten. Dort absolvierten die Brüder eine klassische Ausbildung, zuerst als Schiffsjungen am Priwall, dann als Jungmann, Leichtmatrose und Matrose.

1958 meldeten sich die Zwillinge zur Kapitänsausbildung in Bremen an, unabhängig voneinander. Als sie zu Semesterbeginn dort ankamen, gab es nur einen Platz - die Schule dachte, es handele sich um eine versehentliche Doppelanmeldung. Dann konnten aber doch beide ihre Ausbildung machen.

"Es gab in unserem Leben viele Dinge, die wir zur gleichen Zeit gemacht haben, ohne uns abzusprechen", sagt Klaus. Beim Abschluß 1962 wurde er mit 29 Jahren jüngster Kapitän Deutschlands - er ist ja zehn Minuten jünger als Jürgen.

Für Klaus sind die schönsten Momente auf See, "wenn ich bei Sonnenuntergang auf der Brücke auf meinem Dudelsack spiele; oder wenn ich beobachte, wie das Schiff bei gutem Wind durchs Wasser schießt und die Wellen teilt". Für Jürgen ist "das schönste Erlebnis immer wieder das Auslaufen. Wenn der Wind die Segel bläht und unsere Auslaufmusik ,Conquest of Paradise' über die Brücke schallt, dann bin ich rundum glücklich."

In diesem Punkt sind sich die Zwillinge einig: Wenn Windstärke sechs in die knapp 5000 Quadratmeter Segelfläche schießt, ist das Paradies nicht mehr weit entfernt.