Job verloren? Nörgelnde Nachbarn? Mieses Wetter? Nichts wie weg, sagen jedes Jahr mehr als 100 000 Deutsche. Manche werden glücklich, andere scheitern. Eine Berliner Autorin hat Deutsche in aller Welt nach ihren Motiven befragt.

Frühstücken in einem Häuschen in Brooklyn, New York. Ins Büro fahren in Santiago de Chile. Christstollen kaufen im Supermarkt in Thailand. Fast jeder hat schon einmal davon geträumt, alles stehen und liegen zu lassen und sein Glück im Ausland zu suchen. Für immer Ferien? Für die meisten bleibt es beim Traum. Für Jens und Andrea (in New York), für Birgit (in Santiago) und für Ulrike (in Thailand) sind sie Realität geworden.

Sie gehören zu den mehr als 100 000 Deutschen, die jedes Jahr den Sprung ins Ungewisse wagen - auch, wenn am neuen Wohnort mal ein Hurrikan wütet oder wenn Kultur und Sprache verhindern, daß sie jemals komplett integriert sein werden.

Gibt es so etwas wie ein Auswanderer-Gen? Kerstin Finkelstein (31), die selbst einige Jahre in Buenos Aires lebte, hat sich rund um den Globus auf die Spuren der Deutschen begeben.

"Wir sind Deutsche, keine Deutsch-Chilenen. Für die deutsch-chilenische Gemeinschaft sind wir Ausländer. Die Deutsch-Chilenen halten noch an einem Deutschland-Bild fest, das nicht dem heutigen Deutschland entspricht. Wenn ich hier noch 20 Jahre lebe, mache ich das vielleicht auch." Birgit Tuerksch (35), Santiago

Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Jens und Andrea aus Chemnitz wollten "Abstand gewinnen", haben Angebote aus den USA bekommen und zogen dann nach New York, wo auch ihr erstes Kind zur Welt kam: "Geburtsort New York - das ist doch was!" Birgit Tuerksch folgte ihrem Mann vor sieben Jahren in dessen chilenische Heimat - und hat es bis heute nicht bereut. Sie arbeitet als Chefredakteurin für die deutschsprachige Zeitung "Cóndor". Für Ulrike Kneitschel aus Ost-Berlin war Thailand nicht die erste Wahl. Sie hatte mit einem Freund in Florida gelebt, sich dort aber nach dem 11. September wegen "der Atmosphäre Ausländern gegenüber" nicht mehr willkommen gefühlt. Jetzt versucht sie es mit einer "Event-Agentur".

Die Gründe für das Auswandern haben sich geändert. "Bei der Kriegsgeneration unserer Eltern war es einfacher, einen Grund zu finden", sagt Finkelstein. "Die hatten ja schon alles verloren: Heimat, Haus, Job, Teile der Familie. Dann fiel dieser letzte Schritt leicht." Und dann gab es auch noch Angebote, die man kaum ablehnen konnte: Australien lockte damals mit Überfahrt, Unterkunft und einem Job - für ganze zehn Dollar!

In Neuseeland haben Facharbeiter, Handwerker und andere Spezialisten heute noch gute Chancen, einen Job zu finden - wenn sie vom Alter und von den Finanzen her ins Raster passen. "Wer Angst um seinen Job hat, geht eher nicht", hat Kerstin Finkelstein beobachtet. "Die Risikobereitschaft steigt, wenn die Arbeit gerade verloren wurde." Außerdem sind es die gut ausgebildeten Jungen oder Handwerker, die ihr Glück in Skandinavien oder Irland versuchen - und natürlich die "gut situierten Alten".

Viele Menschen haben es einfach satt, daß ihr Leben nur noch aus Arbeit besteht. "In Australien oder auch in Argentinien ist das eben nicht so", sagt Finkelstein. "Da wird nicht vorausgesetzt, daß Sie am Abend um acht und natürlich auch am Sonntag noch im Büro sind."

Ist es überhaupt möglich, jemals in einer neuen Kultur anzukommen? "Wenn ,ankommen' bedeutet, daß man den Rest, den man mitgebracht hat, komplett ablegt, dann ist eine hundertprozentige Assimilation wirklich selten", hat Kerstin Finkelstein erfahren. "Aber Integration kann ja auch bedeuten, daß es Mischformen gibt."

"Ich kann gar nicht mehr zurück, weil ich für den deutschen Arbeitsmarkt total verdorben bin. Wenn man dort um 18.30 Uhr nach Hause ging, guckten alle Kollegen ganz komisch und gaben Kommentare ab wie ,Ach, nimmst du dir heute einen halben Tag frei?' Hier fragen sie schon morgens, was man so nach Feierabend vorhat." Barbara Fischer (32), Sydney

Wer zum Lichterfest in Thailand ein paar Lämpchen anzündet, muß deswegen nicht gleich Buddhist werden. Ein ehemaliger Manager erzählte im Süden, daß er mit seiner Familie zwölf Jahre lang Weihnachten gefeiert hat, die Kinder adrett angezogen, dabei sind die Kerzen am Weihnachtsbaum geschmolzen.

Wie viele tausend Kilometer sie sich auch entfernt haben - sie bleiben trotzdem ihr Leben lang Deutsche. Tassilo Reisenegger (70), in Santiago geboren, hält sich für einen Chilenen, weiß aber auch: "Wir sind Deutschstämmige, und ich habe das deutsche Wesen in mir." Blonde, großgewachsene Menschen mit blauen Augen können in Lateinamerika so gut spanisch sprechen wie sie wollen - da helfen keine Papiere. "Manchmal", sagt Finkelstein, "begegnen Sie immer noch Leuten, die Deutsche nicht mögen und sich vor ihnen gruseln. Es gibt auch Menschen, die in Kriegsfilmen ,Heil Hitler' gehört haben und denken, so grüßt man noch heute in Deutschland." Nicht mal böse gemeint.

Viele Auswanderer flüchten in deutsche Clubs, weil sie Heimat mit Sprache identifizieren. Und selbst diejenigen, die alles "Deutsche" hinter sich lassen wollten, wissen plötzlich interessante Details: "In dem Buchladen da hinten arbeitet auch Marianne aus Köln . . ."

Was vermissen die Auswanderer im Ausland, mal abgesehen von der Sprache und dem berühmten Schwarzbrot? "Tatsächlich sind das solche Sachen wie zum Beispiel das Marzipan, das aus Lübeck nach Neuseeland mitgebracht werden muß", sagt Finkelstein. "Oder Schinken, die nach New York ausgeführt werden." Ansonsten fehlen die Freunde oder die Familie, die man zu Hause zurücklassen mußte. Und manchmal sogar ein richtig knackiger Winter.

Und dann ist da noch das Miteinander. Die totale Leichtigkeit des Seins gehört nun mal nicht zu den deutschen Eigenschaften. Gastwirt Klaus Gastager vom Hofbräuhaus in Las Vegas hat beobachtet, daß nur eine Gruppe mit der Trinkgeldberechnung für die Kellner nicht zurechtkomme: "Natürlich die deutschen Touristen! Denen kann man das dreimal sagen." Die lockere Fröhlichkeit, die etwa in Lateinamerika üblich ist, behagt den Deutschen ebensowenig wie das streng Hierarchische in Teilen Asiens. "Man sagt den Deutschen nach, es dauere ewig, bis man bei ihnen einen Fuß in der Tür hat", sagt Finkelstein. "Aber wenn er drin ist, bleibt er auch." In anderen Ländern hat man schnell mal beide Füße drin, "aber genauso schnell wird die Tür auch wieder zugeschlagen".

"Ich sage den Leuten immer wieder, daß sie ihre Sachen zu Hause erst mal klären sollen. Das holt einen sonst immer wieder ein. Wer sagt, in Deutschland ist alles schrecklich und seine Brücken ganz abbricht, hat gute Chancen, auch hier zu scheitern." Jens Kronberg (43), Thailand

Die Globalisierung könnte das Auswandern irgendwann überflüssig machen. "Das deuten schon die Statistiken an", sagt Finkelstein. "Viele Leute gehen und kommen dann irgendwann wieder zurück, manche haben sich nicht einmal abgemeldet. Die Entfernungen sind kürzer geworden. Sie können nicht nur über das Internet viel schneller kommunizieren, Sie können sich auch mal eben ins Flugzeug setzen und sind überall. Innerhalb von 48 Stunden ist man fast an jeder Ecke der Welt." Das Idealbild vom lebenslangen Arbeitsplatz und Wohnort wird in dieser Generation ausgelöscht. Es muß ja nicht gleich so sein wie in Australien, wo man mal eben 1000 Kilometer zum nächsten Job fahren muß.

Übrigens, das mit dem Auswanderer-Gen hat Kerstin Finkelstein am Ende doch noch beantwortet. "Meine Schwester lebt bis heute auf unserem Bauernhof, ich dagegen bin ganz schnell verschwunden. Ich glaube schon, daß man mutiger sein muß, offener, anpassungsfähiger." Ans Auswandern denkt sie selbst allerdings auch nicht: "Schwierig. Sie müssen immer irgendwelche Abstriche machen. Gerade wenn man in einer Stadt lebt wie Berlin."

Ihr nächstes Projekt liegt auf der Hand. Das sind die Einwanderer, die nach Deutschland kommen. Eine spannende Geschichte, denn: "Das ist ein vermintes politisches Feld."

Freundschaften? In anderen Ländern hat man schnell mal beide Füße drin, aber genauso schnell wird die Tür auch wieder zugeschlagen.

Für viele besteht das Leben nur noch aus Arbeit. In Australien oder Argentinien setzt niemand voraus, daß Sie abends noch im Büro sind.