Der Hamburger Hafen zählt zu den bedeutendsten Umschlaghäfen im internationalen Kakaohandel. Tausende Tonnen erreichen die Hansestadt jährlich. Doch woher kommt das braune Pulver? Die Spur führte vom Hamburger Hafen in das bergige Hinterland von Sierra Leone. Und zur Familie von Kakaobauer Umaru Foday.

Der Probenstecher bohrt sich durch das grobe Jutegewebe. Der eben noch prall gefüllte und an den Enden verplombte Sack erschlafft an dieser Stelle. In der Nacht gab es den ersten Frost. Es ist kalt, hier im Hamburger Freihafen. Mario Lau hat seine Strickmütze tief ins Gesicht gezogen. Im gedämpften Licht von Schuppen 74 hebt sich sein Atem von der kalten Luft ab. Der Mann in der orangefarbenen Schutzkleidung ist umgeben von braunen Säcken, meterhoch auf Paletten gestapelt. Seine Aufgabe ist es, die Waren zu kontrollieren, bevor sie eingelagert werden. Jeden zehnten Sack sticht er an, zwischen November und März hauptsächlich Kakao. Lau lässt die Kakaobohnen aus dem Probenstecher in die Hand rieseln und mustert sie aufmerksam. Dann führt er sie unter die Nase. "In Ordnung", sagt der Seegüterkontrolleur des Quartiersmannunternehmen H. D. Cotterell, "kein Feuchtigkeitsschaden".

Drei Wochen früher und vierzig Grad wärmer: Das Containerschiff "Delmas Filao" verlässt den Hafen von von Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone und macht sich auf die weite Reise nach Europa. Unterwegs wird die Ladung noch einmal umgeladen, die Hamburger Fracht geht auf die "Vela". Aber die Geschichte der Bohnen beginnt an einem anderen Ort, weit oben im tropischen Hochland des kleinen westafrikanischen Staates. Zehn Stunden Autofahrt auf Straßen voller ausgewaschener Schlaglöcher, tief wie Badewannen, liegen zwischen der Kaimauer von Freetown und dem kleinen Örtchen Kangama, wo fast jeder der tausend Einwohner vom Verkauf der Bohne lebt.

Umaru Foday ist einer von ihnen. Mit seinen langen, kräftigen Fingern gräbt er Samen aus einer Frucht. Das weiße Fruchtfleisch klebt an den Händen. Diese hier ist besonders ergiebig. Etwa 50 Samen schabt er in einen Korb, den er vorher mit Bananenblättern ausgelegt hat. Dann ist die nächste an der Reihe. Die gelbe Frucht wird auf einen Stein gehauen, sorgfältig, damit die Schale nur angeschlagen und das wertvolle Innere nicht beschädigt wird. Dann wird sie auseinandergebrochen und ausgehöhlt. Kaum zu glauben, dass diese blässlichen, feuchten Samen ein so gefragter Rohstoff sind; dass sie an den Börsen von London und New York hoch gehandelt und in Übersee zu Schokolade, Kakaopulver oder Glasur verarbeitet werden. Es ist Ende Oktober und die Ernte in vollem Gange. Fodays zwei Hektar Land liegen eine knappe Stunde Fußmarsch vom Dorf entfernt an einem der Bergrücken. Kola- und Bananenbäume, Ölpalmen und hohe Kapokbäume spenden Schatten. Ein Teppich aus verwelkten Blättern bedeckt den Boden das ganze Jahr über. In der Ferne streiten sich zwei Vögel. Die Bäche plätschern, es klingt wie ein Murmeln, beruhigend irgendwie.

Was genau sie in Europa aus seinen Bohnen herstellen, weiß Umaru Foday nicht. "Ich habe Schokolade noch nie probiert", sagt der 53-Jährige und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nur eine Handvoll Supermärkte in der Hauptstadt verkauft ausländische Schokoriegel, für Bauern wie ihn unerschwinglich. Was Foday neuerdings jedoch brennend interessiert, ist der Weltmarktpreis für Rohkakao. Der befindet sich noch immer im Höhenflug. Umaru Foday freut es. "Kakaogeld ist süß, aber die Arbeit ist hart", singt er grinsend. Und obwohl der Kakaoanbau Knochenarbeit ist, ist er das Einzige, womit er die nötigen Leones verdienen kann. Zu wenig für die neunköpfige Familie.

Seit dem Bürgerkrieg, der im Jahre 2002 endete, verkaufen die Bauern ihre Ernte an Zwischenhändler. Aus der Not viel zu früh, die Bohnen waren weder ausreichend fermentiert, also über biochemische Reaktionen haltbar gemacht, noch getrocknet. Werden diese Prozesse vernachlässigt, ist auch das Aroma nicht so ausgeprägt. Die Qualität des Kakaos leidet unter der Profitgier der Händler. Die kamen schon im Juni in die Dörfer, wenn die Nahrungsmittelvorräte zur Neige gingen. Den Preisen auf dem Weltmarkt war das nicht eben zuträglich. Der Kakao aus Sierra Leone galt dadurch phasenweise als deutlich minderwertig.

Die Bauern waren weit weg von diesen Beurteilungen. "Wir brauchten dringend Reis, hatten aber kein Geld, um welchen zu kaufen", erzählt Umaru Foday. "Sie gaben uns einen Sack Reis, dafür mussten wir später zwei Säcke Kakao zurückzahlen." Auch Kredite gewährten die Zwischenhändler den Bauern, die diese in Kakao erstatten mussten. Viele von ihnen seien noch immer verschuldet.

Im September hat Umaru Foday die ersten Kakaosäcke an die Millenium Kooperative verkauft. Die hätten anständig gezahlt. "Ich schätze, dass ich bis Januar 230 Kilogramm ernten werde", sagt er stolz. "Das sind bei den gegenwärtigen Preisen mindestens 800 000 Leones" (umgerechnet etwa 213 Euro, fast das Doppelte von dem, was er früher erhielt). Millenium ist eine von drei Kakao-Kooperativen im Land, die seit Kriegsende aufgebaut wurden. Seit dem Frühjahr werden sie von der Welthungerhilfe unterstützt. Ein Sechstel der etwa 30 000 Kleinbauern hat sich bis heute den Kooperativen angeschlossen. Ihr Ziel ist es, die Vermarktung selbst in die Hand zu nehmen und die Zwischenhändler, die kräftig mitverdienen, auszuschalten. "Wir begreifen erst jetzt, was unser Kakao eigentlich wert ist."

So stakst Umaru Foday Tag für Tag, von August bis Januar, in seinen schwarzen Gummistiefeln unter den Bäumen hindurch, den Blick starr in die bis zu drei Meter hohen Wipfel gerichtet. Die Gummistiefel trägt er zum Schutz. "Hier gibt es Schlangen", sagt Foday. Und denen möchte er lieber nicht zu nahe kommen. Entdeckt er eine gelbe Frucht, angelt er sie mit einem langen Holzstab, auf den er ein scharfes Schneidemesser gesteckt hat, und schneidet sie vom Ast. Die plumpst mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. "Kopf einziehen", ruft er noch und lacht wieder dieses freundliche, willkommenheißende Lachen, bei dem sich sein Gesicht mit scheinbar unzähligen Lachfalten überzieht.

Heute ist für den Kakaobauern ein ganz besonderer Tag. Sheriff Tarawally und einige andere Mitarbeiter aus dem Büro der Kooperative haben sich angemeldet, um seine Pflanzung zu inspizieren. Der Dorfausrufer hatte ihre Ankunft auf seiner abendlichen Runde angekündigt. Mehr als 150 Bauern kamen zum Versammlungsplatz. Dort erklärte Sheriff Tarawally den Bauern, dass ihre Anbauweise "bio" sei. "Bio", so erläuterte er, heißt ohne Pestizide. Für solcherlei chemische Zusätze hatten die Kleinbauern nie Geld. Insofern erfüllten sie die Biostandards, die sich andere mühselig erarbeiten müssen, von vornherein. Wenn sie sich jetzt registrieren ließen, würden sie bei der nächsten Kakaoernte eine Prämie erhalten, versprach Tarawally. Umaru Foday hat sich noch am selben Abend angemeldet.

Sheriff Tarawally ist ein gewissenhafter junger Mann, der eigentlich in Freetown wohnt. Mende, die lokale Sprache, versteht er nicht, deshalb unterhält er sich mit den Bauern in der Landessprache Krio, einer Melange aus Englisch, Französisch und afrikanischen Sprachen. Als er bei Umaru Foday ankommt, blickt er auf die eigenhändig gezeichnete Karte von Kangama und Umgebung. Die Grundstücke der registrierten Bauern sind darauf mit Nummerncodes gekennzeichnet. Damit sie als Bio-Produzenten zertifiziert werden können, muss er nun die Bäume und das Gesamtbild der Pflanzung begutachten. Er nickt zufrieden, diese hier macht einen gepflegten Eindruck. "Hier stehen große Bäume, die ausreichend Schatten spenden. Es ist aber nicht zu schattig, sodass die Feuchtigkeit stehen bleibt", sagt er lobend. Dann zeigt er auf einen Haufen aus braunen, vermodernden Kakaoschalen. "Die musst du aufsammeln und außerhalb der Pflanzung kompostieren. Die haben hier nichts verloren", erklärt der Inspekteur im strengen Ton. Dass er Lehrer war, bevor er bei der Kooperative anfing, kann man sich vorstellen.

Die Hälfte der Bauern von Kangama hat Sheriff Tarawally schon für den Bioanbau registriert. Mit den meisten der 160 Produzenten hat er die detaillierten Fragebögen ausgefüllt, weil sie nicht lesen und schreiben können. Die andere Hälfte ist noch misstrauisch. Die Bauern fürchten, dass sie nach der Registrierung enteignet werden. "Die können nach der nächsten Ernte dazukommen, wenn sie sich überzeugt haben", sagt Sheriff Tarawally. Wenn sie mit eigenen Augen sehen, dass zusätzliche Einnahmen möglich sind. Das Verfahren für die Zertifizierung ist kompliziert, weil für den Kunden in Europa jede Charge bis zurück an den Baum nachvollziehbar sein muss.

Mittlerweile ist es Nachmittag und Zeit, den Rückweg anzutreten. Umaru Foday trägt den Korb mit den blässlichen Bohnen auf dem Kopf. Seine ältesten Töchter Famata und Aissatou werden sie später mit Bananenblättern abdecken und sieben Tage fermentieren. Ein leichtes Kakaoaroma ist dann zu schmecken, und die Bohnen haben endlich ihre typische braune Farbe.

Als der Trampelpfad auf die Landstraße trifft, bleibt Umaru Foday abrupt stehen. Neben der rot-staubigen Sandpiste stehen Bäume und Sträucher, dazwischen mannshohes Elefantengras. "Hier war früher unser Dorf", sagt er und zeigt einige Meter weiter. "Dort standen die Häuser meiner Großeltern." Über sein Gesicht fällt ein Schatten, der Blick ist ausdruckslos auf einen Ort in weiter Ferne gerichtet. Die Erinnerungen an die Jahre des Bürgerkriegs kehren zurück.

Er erzählt, wie die Familie bei den ersten Rebellenangriffen in den Regenwald floh, weit weg vom Dorf, und dort elf Jahre verbrachte. Elf Jahre, in denen Rebellen gegen Regierungstruppen und beide gemeinsam gegen die einfachen Leute kämpften. Sie massakrierten, folterten, vergewaltigten Frauen und Mädchen und rekrutierten Kinder. Seine erste Frau verblutete im Wald bei der Geburt. Zwei Kinder starben.

Vor sieben Jahren kehrte Umaru Foday mit vier Kindern und seiner zweiten Frau Mariama ins Leben zurück. Es dauerte Tage, bis er sich traute, zu seiner Pflanzung hinaufzugehen. "Sie war verwildert, ich konnte sie nicht betreten", sagt er und schüttelt bei den Gedanken daran den Kopf. "Die Früchte waren verfault, die Bäume krank." Mühsam, Meter für Meter, säuberte er die Pflanzung von Unterholz und fällte Bäume. Mit nichts weiter als einer Machete. Es war schwierig, an die früheren Anbau- und Verarbeitungsverfahren anzuschließen. Viele alte, erfahrene Bauern waren tot, und die Jungen hatten einfach vergessen, wie eine Pflanzung verwaltet wird.

Die Häuser von Kangama säumen die Hauptstraße. Es sind kleine Steinhäuser mit Dächern aus Wellblech, mithilfe der vielen Hilfsorganisationen erbaut, die nach dem Krieg ins Land kamen. Auf den Veranden sitzen Männer und reden durcheinander. Die Feuerstellen qualmen, unter zeltartigen Holzkonstruktionen vor Regen geschützt. Mariama Foday winkt. Ein Stampfen ertönt aus allen Richtungen, dong-dong, dong-dong, und kündigt das Abendessen an. Auch die Töchter Aissatou und Famata stoßen hinter dem Haus die langen Holzstäbe in einem Rhythmus. Langsam löst sich im Mörser die Schale vom Reis. Schweiß perlt auf der Stirn. Aissatou schleudert den Inhalt des Mörsers mit einem Sieb in die Luft, und der Wind trägt die Schalen davon. Für eine Zwölfjährige ist sie erstaunlich groß. Sie besucht die sechste Klasse der katholischen Grundschule im Ort. Ihre Haare sind zu kleinen Schlangen verflochten, die sich am Hinterkopf treffen.

Umaru Foday zieht eine Holzbank herbei. Der achtjährige Samsi aalt sich derweil auf den Stufen und drückt auf den Knöpfen eines Plastikhandys herum, das nervtötend quäkt. "Ich allein schaffe nur einen Bruchteil der Arbeit mit dem Kakao, ich bin einfach auf die Hilfe meiner Kinder angewiesen", sagt Umaru Foday. Aissatou erzählt mit leiser Stimme, dass die Familie die Wochenenden oben in der Pflanzung verbringt. Sie schaut schüchtern an den Besuchern vorbei. "Wir kochen für die ganze Familie, wir helfen auch beim Ausholzen und beim Ernten." Obwohl sie die helfenden Hände dringend brauchen, ist es den Eltern wichtig, dass ihre Kinder die Schule besuchen. Auch wenn ihnen die Frage, wie sie das Schulgeld zusammenkratzen sollen, jedes Schuljahr Kopfschmerzen bereitet. "Offiziell ist die Grundschule kostenlos, aber wir müssen Gebühren, Schuluniformen, Bücher und manchmal eine kleine Umlage für die Lehrer zahlen", sagt Sheriff Tarawally.

Umaru Foday hofft, dass seine Kinder in der Landwirtschaft bleiben. "Hier hat man immer ein Auskommen." Er weiß, wovon er spricht. Als Jugendlicher kam er von Freetown nach Kangama zu den Großeltern. Sein Vater war gestorben, und er konnte die Schule nicht beenden. Aber "das war das Beste, was ich ohne Schulabschluss tun konnte". Vielleicht auch mit Schulabschluss. Doch die Entscheidung sollen sie selbst treffen. "Bestimmt wollen sie später in einem Büro arbeiten", meint er schmunzelnd. Dies ist ein ernstes Problem auf dem Lande: Die jungen Leute wollen nicht in der Landwirtschaft schuften und träumen davon, in die Städte zu ziehen. Dort finden sie bei einer Arbeitslosenquote von 60 Prozent selten eine Stelle. Während die Arbeitskräfte auf dem Lande fehlen.

So weit mag in der Familie niemand denken. Für sie hat in Kangama eine neue Zeitrechnung begonnen. Stolzes Zeichen ist der Trockentisch vor dem Haus. Diese Holzkonstruktion, die an eine Tischtennisplatte erinnert, haben die Mitarbeiter der Kooperative nach Kangama gebracht. Die Mädchen verteilen die Kakaobohnen, die nach dem Fermentieren trocknen. Sie picken die flachen und schimmeligen heraus. Vorbei sind die Zeiten, als sie im Staub der Straße trockneten - wie noch bei einigen Nachbarn. "So geht es schneller", sagt Umaru Foday, während er die Bohnen zwischen den Zähnen aufknackt und die Schale ausspuckt. "Der Kakao hat eine bessere Qualität, und das bringt mehr Geld."

In zwei Tagen wird Umaru Fodays Kakao die Feuchtigkeitsgrenze von neun Prozent erreicht haben. Dann kann der Kakao in Säcken verpackt seinen Weg nach Hamburg antreten. Und Mario Lau wird ihn im Hamburger Hafen überprüfen und hoffentlich sagen: "In Ordnung."