Dierk Strothmann über Nacktheit und womit man Mäuse fängt

Was hat sich bloß der Veranstalter und Musikmanager Kurt Collien dabei gedacht, sich die deutschen Uraufführungsrechte des Nackedei-Musicals "Oh! Calcutta!" zu besorgen und es dann im Operettenhaus zu starten, wo sonst die "Lustige Witwe" trällerte und Freddy jahrelang "Heimweh nach St. Pauli" hatte? So fragte man sich vor fast 40 Jahren, als am 8. März 1971 die umstrittene Premiere weitgehend textilfrei über die Bühne ging.

Prompt gab es handfeste Proteste von empörten Bürgern, die drohten, die Show zu sprengen und dann, als Ordnungskräfte eingriffen, skandierten: "Diese Schweinerei schützt die Polizei", was einigermaßen überraschend war, denn ein paar Meter weiter auf der Reeperbahn gab es schließlich viel größere "Schweinereien" zu sehen.

Daraufhin ging, wer so etwas sehen wollte, gleich nach nebenan, und das Operettenhaus, das ja witzigerweise 1841 als "Circus Gymnasticus" eröffnet worden war, blieb leer. Schon wenige Wochen später wurde das traditionsreiche Haus vorübergehend geschlossen.

Und damit verschwand "Oh! Calcutta!". Es lohnt sich durchaus, einen (vielleicht letzten) Blick auf das Musical zu werfen, denn es ist ein Stück Zeitgeschichte, das nicht rein zufällig Ende der 60er entstand. Es war ein Mosaikstein in der gesellschaftspolitischen Entwicklung jener Zeit. Aufstand gegen das "Establishment", Emanzipation der Frau, Provokation, überall ging es darum, die Regeln zu durchbrechen. Nacktheit war eine Form des Protestes. Damals zogen sich alle aus. Ob nun die Damen und Herren in den "St. Pauli Nachrichten", die 1968 erstmals erschienen, oder die Politclowns der "Kommune 1" in Berlin.

Das verstellte ein wenig den Blick für den kulturgeschichtlich wissenswerten Hintergrund von "Oh! Calcutta!". Geschrieben hat es ein Theatermann namens Kenneth Peacock Tynan, der in England und den USA ein einflussreicher Kritiker war und unter anderem als Chefdramaturg im British Royal National Theatre unter Sir Laurence Olivier arbeitete.

Auch der Titel des Stückes hat einen interessanten Hintergrund. Tynan übernahm ihn von einem "Oh Calcutta! Calcutta!" genannten Bild des französischen Malers Clovis Trouille, das eine liegende nackte Frau zeigt und dessen Titel ein Wortspiel ist. Aus "O quel cul t'as" (Oh, was für einen Hintern du hast) wurde "Oh Calcutta". Touille gilt als Galionsfigur der Belle Epoque und hat mit seinen Bildern den Maler Salvador Dalí ebenso beeinflusst wie den Schriftsteller Andre Breton. Das Musical war woanders ganz erfolgreich. Eine Broadway-Version lief immerhin 13 Jahre und liegt heute noch an Platz fünf der am längsten gespielten Stücke.

In Hamburg war das anders. Auf "Oh! Calcutta!" folgte für das Operettenhaus eine lange Durststrecke. Erst 1986 mit der Premiere von "Cats" erlebte es eine spektakuläre Wiederauferstehung, und damit wurde unsere Stadt schlagartig in die erste Riege der wichtigsten Musical-Metropolen der Welt gespült. Apropos "Cats". Das erinnert mich an einen Ausspruch des damaligen Tourismus-Chefs Otto Hiebl, der zwar als Ur-Münchner nicht immer zielsicher die Herzen der Hamburger eroberte (so nannte er beispielsweise den Hafengeburtstag einmal 'maritimes Oktoberfest'), mit diesem Ausspruch aber recht behielt: "Mit 'Cats' fängt man Mäuse."