Berlin. Eine Frau leidet jahrelang an schweren Depressionen. Sie bittet einen Arzt um Sterbehilfe. Er überlässt ihr Medikamente. Das Urteil.

Doktor Christoph T. wirkte sichtlich angefasst, nachdem das Urteil über ihn gesprochen worden war. „Ich fühle mich erschlagen und enttäuscht“, sagte der 74 Jahre alte Mediziner, den das Landgericht Berlin am Montag wegen Totschlags zu drei Jahren Haft verurteilt hat. Der frühere Hausarzt gehört einer Sterbehilfeorganisation an und leistete im Juli 2021 passive Sterbehilfe bei einer 37-jährigen Frau, die unter Depressionen litt. Er habe sie in ihrer Entscheidung zum Freitod maßgeblich beeinflusst, obwohl er gewusst habe, dass der Todeswunsch Teil ihrer psychischen Erkrankung sei, lautete die Begründung des Vorsitzenden Richters Mark Sautter. Der Mediziner habe dadurch „die Grenzen des Zulässigen überschritten“. Sein Verteidiger hatte auf Freispruch plädiert.

Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020 ist das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ juristisch anerkannt. Ärzte dürfen in Deutschland Suizide unter engen Vorbedingungen begleiten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Personen, die unter psychischen Erkrankungen, Depressionen oder bipolaren Störungen leiden, werden aber nahezu immer von Sterbehilfeorganisationen abgelehnt. Es wird gemeinhin davon ausgegangen, dass sie aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht in der Lage sind, frei über ihren Todeswunsch zu bestimmen. Das war zuletzt auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs (BGH) nahegelegt worden.

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Sterbehilfe-Urteil: Gericht begrüßt die Revision des Verurteilten

T. sieht in dem Urteil über sich jedoch nicht weniger als eine Diskriminierung psychisch Kranker. „Ich sehe außerdem die Gefahr, dass diese Leute dadurch geradezu in den Gewaltsuizid gedrängt werden“, sagte er. T. hatte schon zu Prozessauftakt angekündigt, im Falle einer Verurteilung in Revision zu gehen. Interessanterweise gab Richter Sautter bei der Urteilsbegründung an, diesen Schritt ausdrücklich zu „begrüßen“. Die bestehende Rechtssprechung des BGH sei hier leider nicht eindeutig genug, auch gebe es keine klare gesetzliche Regelung. So könnte das Berliner Urteil tatsächlich wegweisend sein für zukünftige Entscheidungen in dieser Grauzone der erlaubten Sterbehilfe.

Kern des Problems ist die Frage des freien Willens. Abgesehen davon, dass dieser ein Konstrukt und nicht wissenschaftlich messbar sei, so Richter Sautter, sei davon auszugehen, dass der freie Wille der Frau durch ihre Krankheit zumindest eingeschränkt gewesen sei. Der BGH sieht eine innere Festigkeit und die Dauerhaftigkeit des Todeswunsches als maßgebliche Voraussetzungen für einen begleiteten Suizid an. Die Frau habe jedoch an Stimmungsschwankungen gelitten – die auch unmittelbar ihren Wunsch nach dem Sterben betrafen. Als Mediziner hätte T. zudem klar sein müssen, dass Depressive aufgrund ihrer Erkrankung grundsätzlich negativ auf ihre Zukunft und ihre Heilungschancen blicken würden.

Mediziner vom Vorwurf des versuchten Totschlags freigesprochen

Die 37-jährige Studentin der Tiermedizin, die seit 16 Jahren auch unter einer bipolaren Störung litt, hatte im Juni 2021 Kontakt zu dem Arzt aufgenommen, den sie fortan „Dr. Tod“ nannte. Da war T. gerade erst in einem weiteren Verfahren wegen Totschlags freigesprochen worden. Knapp zwei Wochen später stellte der Mediziner ihr tödlich wirkenden Tabletten zur Verfügung, die sie jedoch wieder erbrach. T. habe bei ihr „die große seelische Not und die Entschlossenheit“ gesehen, notfalls einen Gewaltsuizid zu begehen, wenn er sie nicht bei einem würdigen Tod unterstütze. Die Frau habe immer klar und entschlossen in ihrem Wunsch gewirkt, so T.

Tatsächlich war T. vorm Landgericht Berlin auch wegen dieses ersten, gescheiterten Suizidversuches angeklagt worden, der Vorwurf lautete auf versuchten Totschlag. Hier wurde der Arzt allerdings freigesprochen, da ihm kein Missverhalten nachgewiesen werden konnte. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass psychisch Kranke nicht grundsätzlich von der Sterbehilfe ausgenommen werden können, da das Gericht in diesem Fall nicht am freien Willen der Patientin zweifelte.

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37-Jährige hatte Angst vor einem erneuten Scheitern ihres Suizids

Anders beim letztlich tödlichen Vorfall vom 12. Juli 2021, bei dem T. der 37-Jährigen in einem Hotelzimmer eine Infusion mit einem tödlich wirkenden Medikament legte. Die Frau habe zuvor in privaten Nachrichten angedeutet, von ihrem Todeswunsch abgerückt zu sein. Dass sie eine „hundertprozentig sicherere“ Suizidmethode überlebt habe, habe sie als „göttliches Zeichen“ verstanden, weiterzumachen.

Schon davor habe sie immer wieder längere glückliche Phasen mit weniger Medikation gehabt, im Beruf der Tiermedizinerin nach einem Sinn für ihr Leben gesucht. Außerdem, so schrieb die Frau, habe sie Angst, den nächsten Suizidversuch erneut zu überleben. Dies könnte schwere gesundheitliche Schäden nach sich ziehen und bedeuten, dass sie für immer in eine psychiatrische Anstalt gesteckt werden würde.

T. hat Patientin im Todeswunsch beeinflusst

Genau hier habe T. nun unverantwortlich gehandelt und sich zu unkritisch vor dem Hintergrund ihres Krankheitsbildes gezeigt, ist Richter Sautter überzeugt. So habe er ihr suggeriert, diesmal notfalls selbst sicherzustellen, dass sie wirklich sterbe. Dadurch habe er sie maßgeblich in ihrer Entscheidung, nun doch sterben zu wollen, beeinflusst. Zumal die 37-Jährige ihre Meinung bezüglich ihres Todes zuvor innerhalb weniger Stunden mehrfach geändert hätte. Noch am Morgen des Suizidversuchs hatte sie geschrieben, zur Erholung in ihre Heimat reisen zu wollen – für das Gericht ein klares Indiz dafür, dass eben keine „Standhaftigkeit“ bezüglich des Todeswunsches vorlegen habe.

T. kritisierte jedoch das Missverhältnis in der Auswahl der Texte, die vor Gericht vorgelesen wurden. „In zehn Prozent der Fälle äußerte sie sich mir gegenüber positiv über ihr Leben“, so der Mediziner. „In neunzig Prozent waren ihre Nachrichten von Hoffnungslosigkeit geprägt.“ Jeder weitere Tag sei eine Qual für sie gewesen. T. kann das Urteil nun innerhalb einer Woche anfechten.