Berlin. Mord und Selbstmord – Spekulationen über die Motive des Piraten-Politikers Gerwald Claus-Brunner

„Geh’ mal zum Arzt!“, der Zwischenruf im Berliner Abgeordnetenhaus vom 23. Juni war einer wie viele. Es kommt vor, dass Rufer zur Ordnung gerufen werden. So auch diesmal. Solche Zwischenrufe seien „wirklich unangemessen“, wies Parlamentsvizepräsidentin Antje Schillhaneck den Störer zurecht. Niemand hätte sich später wohl daran erinnert, wäre der Redner nicht Gerwald Claus-Brunner gewesen, dessen spektakulärer Selbstmord diese Woche Berlin erschütterte – umso mehr, als sich herausstellte, dass der Piraten-Politiker zuvor einen Mann getötet hatte. Hätte ein Arzt verhindern können, was wenige Wochen später geschah? Über die Hintergründe der Taten gibt es zahlreiche Spekulationen.

Am Montag dieser Woche war der 44 Jahre alte Politiker in seiner Wohnung in Steglitz tot aufgefunden worden. Durch einen Stromschlag habe er sich selbst getötet, ergaben die Ermittlungen der Polizei. In derselben Wohnung fanden die Beamten den Leichnam des 29-jährigen Jan L., der zeitweilig für Claus-Brunner gearbeitet haben soll. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass weitere Personen an den Taten beteiligt gewesen seien, sagte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, am gestrigen Donnerstag. Der Fall sei damit abgeschlossen. „Gegen Tote wird nicht ermittelt.“ Doch die Fragen bleiben.

Wer war der Piraten-Politiker mit dem Kopftuch wirklich?

Am Montag waren viele schnell vom tragischen Selbstmord des Politikers überzeugt. „Faxe“, so wurde Claus-Brunner von Parteikollegen genannt, hatte an jenem 23. Juni selbst in seiner Rede einen Hinweis darauf gegeben: „Ihr werdet (…) für mich am Anfang irgendeiner Plenarsitzung noch einmal aufstehen dürfen und eine Minute stillschweigen.“

Besorgt wandte sich danach Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) an die Fraktionsspitze der Piraten, bot die Vermittlung sozial-psychiatrischer Hilfe an. Die Fraktionskollegen lehnten das ab, Claus-Brunners psychische Probleme seien bekannt, und er sei bereits in Behandlung. Einigen hatte er auch von einer unheilbaren Krankheit erzählt, die zum Tod führe.

Fast schuldbewusst beschrieb am Montag eine Parteikollegin aus Leipzig auf ihrem Blog, was die Motive des Selbstmordes gewesen sein könnten. Die Partei habe sich mit ihm schwergetan, sie habe ihm „nie den Platz eingeräumt, der ihm eigentlich gebührte“. Außerdem habe Gerwald Claus-Brunner „für das große Abenteuer Abgeordnetenhaus“ sein Privatleben vernachlässigt – jenen Mann, von dem die Parteifreundin überzeugt war, dass er seine „große Liebe“ gewesen sein musste: „Wuschelkopf“ habe er ihn genannt. „Die, das hat ihm immer am meisten zu schaffen gemacht, irgendeiner obskuren Sekte anheimgefallen war.“

Und die er mutmaßlich am Donnerstag vergangener Woche tötete, in dessen Einzimmerwohnung in Wedding, durch „stumpfe Gewalt gegen den Oberköper“, so die Staatsanwaltschaft. Danach brachte Claus-Brunner den Leichnam in seine Wohnung in Steglitz. Und postete am Tag darauf auf Twitter ein Bild seines Opfers aus Lebzeiten und schrieb: „Meine Liebe, mein Leben, für dich lieber Wuschelkopf, für immer und ewig!“ Das Opfer Jan L. soll Claus-Brunner, der 15 Jahre älter war, wegen Stalkings angezeigt haben. Gab es eine Beziehung – oder nur den Wunsch?

Auch eine andere Geschichte bekam nach Claus-Brunners Tod Risse: Bei seiner Obduktion fanden sich keine Hinweise auf eine tödliche Krankheit. Was, also, stimmt an all den Geschichten um den Politiker? Tage danach erreichte ein Brief in einem Päckchen die Polizei, das an einen ehemaligen Lebensgefährten Claus-Brunners gehen sollte, dort aber nie ankam. Darin: Ein Geständnis der Tat. Über die Motive schweigt die Staatsanwaltschaft.

Ein ehemaliger politischer Weggefährte sagt, dass Claus-Brunner seit 2010 gemobbt und verleumdet worden sei. Seit er 2011 ins Abgeordnetenhaus einzog, interessierten sich die Medien besonders für ihn.

Dort wurde einiges aus Gerwald Claus-Brunners Leben zusammengetragen. Auch kam er selbst zu Wort. Er sei ein „Aggro“-Kind gewesen, berichtete er. Wurde in der Schule gehänselt. Mit 13 Jahren habe er im Wald 50 Säcke Ammoniumnitratdünger angezündet, „das gab eine ganz schöne Detonation“. Auch gegen Menschen sei er gewalttätig geworden, hieß es in den Berichten weiter.