Dieser Abend heißt Edgar Selge. Großartig, bewundernswert, mitreißend, was der Schauspieler da in zweieinhalb Stunden Soloperformance in „Unterwerfung“, einer Dramatisierung von Michel Houellebecqs Roman über den Wandel Frankreichs in einen islamischen Staat, am Schauspielhaus zeigt. Eine Sternstunde des Theaters. Das Publikum riss es am Schluss des Premierenabends von den Stühlen. Selge und Regisseurin Karin Beier bekamen minutenlangen, tosenden Beifall. Standing ovations für eine überzeugende Inszenierung, einen her­ausragenden Theaterabend.

Wenn Selge bloß auftritt! Listig, verwegen, ein wenig zerfleddert, aber ungeheuer konzentriert und herausfordernd, spielt er den einsamen Macho und mittelmäßigen Literaturprofessor François, der sich nicht in der Lage fühlt, eine Liebesbeziehung zu gestalten, geschweige denn sein Leben. Kurzzeitig erinnert seine Erscheinung an den verwahrlost wirkenden Michel Houellebecq. Auch später wieder, als er, genau wie der Autor, die Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger hält. Oder als er erzählt, er wohne – wie der Autor – im Pariser Chinesenviertel, dort sei er sicher vor ethnischen Konflikten.

François ist eine typische Houellebecq-Figur, ein „armer Mann“, ein Misanthrop ohne Freunde. Erschöpft, erloschen und beinahe nie erregt. Wenn er nach Hause kommt, beschäftigt er sich mit Tiefkühlkost, Fernsehen und Pornografie und verfolgt erstaunt und ermattet, wie sich die politischen Kräfte auflösen und die „Bruderschaft der Muslime“ an die Regierung gerät. Das alles erzählt uns Selges François und bleibt sehr nah an der Vorlage. Wenn Houelle­becq allerdings mit dem Islam zusammentrifft, geraten Gott und die Welt in Bewegung.

Goncourt-Preisträger Michel Houelle­becq ist der wichtigste zeitgenössische Autor Frankreichs. Er provoziert. Lästert über Frauen und Freigeister, erscheint nicht zu Lesungen, raucht ununterbrochen, müffelt, spricht offen über seinen Pornokonsum – mit anderen Worten, er hat sich zur perfekt inszenierten PR-Figur stilisiert, auch wenn ihm inzwischen die meisten Zähne fehlen. „Wer auch immer die monotheistischen Religionen erfunden hat, ist ein Kretin“, sagte er einmal, „unter all diesen Religionen ist der Islam aber sicher die dümmste.“

Nun ist „Unterwerfung“ aber keine Abrechnung mit dem Islam, zeigt dagegen, wie die Auflösung der liberalen Wertegesellschaft zur Auflösung des vereinsamten Individuums führt. Das macht den Stoff so spannend. Denn schließlich denken wir ja auch gerade heftig darüber nach, was unsere Gesellschaft zusammenhalten kann, welche Werte wir brauchen und ob die Laisser-faire-Haltung zu Verweichlichung und moralischer Verwahrlosung führte.

Regisseurin Karin Beier hat am Wochenende die Uraufführung von Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ inszeniert. Gemeinsam mit Dramaturgin Rita Thiele hat sie den 270-Seiten-Roman in eine spannend aktuelle, kongeniale Fassung gebracht, in der nichts Wesentliches verloren gegangen scheint. Und sie hat das Stück bis in feinste Nuancen überzeugend inszeniert. Mit Selge als einzigem Darsteller. Ihm gelingt es, die Geschichte von einem Mann und einem Land, die sich durch Gleichgültigkeit und Erschöpfung plötzlich in einem moderat islamischen Gottesstaat befinden, zu einem packenden, spannungsreichen, aufregenden Theaterabend zu machen.

Großartig interpretiert den Stoff auch Olaf Altmanns Bühnenbild, eine schwarze Wand, die bis zur Vorbühne reicht. Ein enger Raum also, auf dem sich der Darsteller bewegen muss. In der Wand ist ein sich drehendes Kreuz ausgespart, in dem Selge herumturnt, sich verkriecht, mal wie ein Höhlenmensch sitzt oder sich selbstbewusst aufrichtet. Bequem ist das nie. Erst am Ende, wenn die islamische Partei die gesellschaftlichen Regeln umgekrempelt hat, öffnet sich die Wand zum weiten, leeren Raum. Frauen in Ganzkörperverschleierung entfernen die Requisiten. Der Mensch wirkt wieder verloren. Etwas ist vergangen, etwas Neues ist gekommen. „Was soll’s?“ scheint François zu sagen. Immerhin darf er jetzt drei Frauen haben, die er sich nicht mal selbst aussuchen muss. Und bekommt das dreifache Gehalt, wenn er zum Islam konvertiert. Für alles sorgt die islamische Verwaltung.

Die Geschichte, die Houellebecq erzählt, scheint nicht weit dahergeholt. Im Jahr 2022 haben sich in Frankreich politischen Kräfte auf zwei Stränge fokussiert: die Rechtsradikalen unter Marine Le Pen und die Islamisten mit Mohammed Ben Abbes. Ihn unterstützen die bürgerlichen Parteien. Blutige Anschläge und Bürgerkrieg haben ein Ende, über die nicht mehr berichtet werden durfte, denn „jedes Bild mit Krawallen aus der Vorstadt erhöht den Zulauf zum Front National“. Die neue Regierung setzt vor allem auf muslimische Bildung. Schulen, Universitäten – alles wird verändert. Mädchen dürfen nicht mehr ausreichend in die Schule gehen, weibliche Lehrkräfte werden entfernt. Die Sorbonne wird mit Geld von den Saudis geflutet. Und jeder Mann darf mehrere Frauen heiraten.

Gar nicht mal schlecht, findet irgendwann auch François. Er leidet unter Einsamkeit, körperlichen Zipperlein, einer „Ansammlung von Alterssorgen“. Wie schön, wenn sich um all das ein bis drei Frauen kümmern würden. Ausprobiert hat er es ja schon beim muslimischen Escort-Service.

Selge gelingt nun das große Kunststück, diesen Mann nicht unsympathisch wirken zu lassen. François, der sich mit Vorliebe der Dekadenzliteratur um Joris Karl Huysmans widmet, scheint ein Jedermann. Mit einem nicht ungewohnt überproportionalen Anteil an Frauenverachtung und Verkommenheit. Selge lässt ihn grinsen und jammern, hat keine Furcht vor Rohheit und Gemeinheit. Manchmal überlegen, voll der Sicherheit, verfällt er klagend ins Lebensmüde. Er rast durch Gedanken und Lebensentwürfe, imitiert krötenartig eine Kollegin, beklagt Hämorrhoiden und streckt uns den Hintern aus dem Kreuz entgegen. Ja, lustig ist es auch. Bei ihm spricht Kunst und Fantasie aus jeder Kleinigkeit. Wenn man einen solchen Abend erlebt, weiß man, dass Schauspieler der schönste Beruf der Welt sein kann.

Weitere Termine: 10. / 16. / 17.2., 3. / 12. / 16. / 26.3. Karten (10 bis 37 Euro) unter 040/248713.