Ayotzinapa . Die Regierung hat die 43 verschwundenen Studenten für tot erklärt, doch die Familien zweifeln an der offiziellen Version.

In Ayotzinapa ist die Zeit stehen geblieben. Seit über einem Jahr findet in der Landuniversität in den Bergen von Guerrero kein Unterricht mehr statt. Zu groß ist die Trauer über die 43 Kommilitonen, die seit einem Jahr verschwunden sind. Die Studenten bestellen die Felder, versorgen das Vieh und halten den Campus sauber. Das akademische Leben ist aber weitgehend zum Erliegen gekommen.

„Uns fehlen 43 - wir können nicht einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen“, sagt der 25-jährige Alfredo Sánchez. Die Studenten malen Transparente, fahren zu Protestkundgebungen nach Mexiko-Stadt, besprechen auf Versammlungen ihre nächsten Aktionen. Vor allem aber warten sie: Auf neue Ermittlungsergebnisse, Berichte der unabhängigen Experten, Reaktionen der Regierung.

Zweifel an der offiziellen Version

Örtliche Polizisten hatten die Studenten am 26. September vergangenen Jahres in der Stadt Iguala angegriffen und sie der kriminellen Organisation Guerreros Unidos übergeben. Mehrere Bandenmitglieder räumten ein, die jungen Männer getötet und ihre Leichen auf einer Müllkippe verbrannt zu haben. Die Angehörigen und Kommilitonen glauben die offizielle Version nicht und fordern weitere Ermittlungen.

José Luis Méndez Pérez hat die tragische Nacht überlebt. Er saß im letzten Bus, als die Polizei den Konvoi der Studenten stoppte. „Wir sind in die Berge geflüchtet, die Polizisten haben uns hinterher geschossen. Dann konnten wir uns im Haus einer Frau verstecken, die uns hineinließ“, erzählt der 20-Jährige.

Erst am nächsten Tag erfuhr er, dass bei dem Angriff sechs Menschen ums Leben kamen und 43 seiner Kommilitonen verschleppt wurden. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hält der junge Mann für manipuliert. „Viele Dinge sind im Dunkeln geblieben“, sagt er. „Wir wollten unsere Aussage machen, aber niemand hat auf uns gehört.“ Von dem fünften Bus, in dem sich Méndez befand, war in den offiziellen Berichten beispielsweise nie die Rede.

Die zögerliche Reaktion der Regierung, Widersprüche in den Ermittlungen, konträre Einschätzungen unabhängiger Ermittler - all das hat Zweifel an der Version der Generalstaatsanwaltschaft geschürt. Viele auf dem Campus glauben, Soldaten hätten die Studenten verschleppt und hielten sie in einem Geheimgefängnis fest. „Warum öffnet der Präsident nicht das Bataillon von Iguala und lässt die Soldaten verhören?“, fragt María de Jesús Tlatempa, die Mutter eines der Verschwundenen. An der Landstraße nach Ayotzinapa stehen Transparente mit der Aufschrift: „Es war der Staat.“

Von der Regierung im Stich gelassen

Zweimal traf sich Präsident Enrique Peña Nieto bislang mit den Angehörigen. „Der Präsident der Republik und seine Beamten haben keinen unserer Vorschläge zur weiteren Suche nach den Verschwundenen akzeptiert“, sagt der Opferanwalt Vidulfo Rosales nach dem jüngsten Treffen am Donnerstag.

International schlägt den Studenten von Ayotzinapa eine Welle der Solidarität entgegen. Auf dem Hauptplatz der Universität haben sie Fotos von Unterstützern aus aller Welt aufgehängt. Darunter eine Mennonitengemeinde aus Paraguay, ein Fotografen-Kollektiv aus Neu-Delhi und eine Schülergruppe aus Rom. Sie halten Schilder mit der Aufschrift „Wir alle sind Ayotzinapa“ in den Händen.

Von der eigenen Regierung fühlen sich die Eltern und Kommilitonen der Vermissten hingegen in ihrem Schmerz alleingelassen. Schon drei Monate nach der Entführung der jungen Männer forderte Präsident Peña Nieto, Mexiko müsse „darüber hinwegkommen“. Der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam beendete eine Pressekonferenz zu dem Fall einmal leicht genervt mit den Worten: „Mir reicht’s“.

Regierung verspricht weitere Ermittlungen

Bei dem Treffen am Donnerstag schlug der Präsident andere Töne an: . „Wir sind auf der selben Seite“, sagte der Staatschef am Donnerstag bei dem Treffen mit über 100 Familienangehörigen und Kommilitonen der jungen Männer. „Wir möchten wissen, was mit ihren Söhnen passiert ist und wollen, dass alle Verantwortlichen bestraft werden.“

„Der Fall ist nicht abgeschlossen“, sagte Peña Nieto. Er kündigte die Gründung einer speziellen Staatsanwaltschaft für die Suche nach vermissten Personen an. Zudem werde die Generalstaatsanwaltschaft ein Team von Forensikern zusammenstellen, die die Beweisstücke und Tatorte erneut untersuchen.

Das Verbrechen soll der Bürgermeister von Iguala angeordnet haben, der zusammen mit seiner Frau in Haft sitzt. Mehr als 100 Verdächtige wurden festgenommen, die meisten sind örtliche Polizisten.

Den Angehörigen gehen die neuen Ankündigungen von Peña Nieto nicht weit genug. Vieles sei schon vor einem Jahr vereinbart worden. Sie fordern eine eigene Anklagebehörde für den Fall und eine Untersuchungskommission unter internationaler Aufsicht. Die Familien der Studenten hatten die offiziellen Ermittlungsergebnisse von Anfang an bezweifelt. Sie werfen der Polizei vor, in das organisierte Verbrechen verwickelt zu sein.

Auch Expertenkommission hegt Zweifel

Eine Expertengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission hatte zuletzt einen umfangreichen Bericht zu dem Fall vorgelegt und erhebliche Zweifel an der offiziellen Version geäußert. Beispielsweise sei es physikalisch nicht möglich, so viele Leichen in kurzer Zeit zu verbrennen. Der Präsident wies die Generalstaatsanwaltschaft an, die Ergebnisse der Experten in ihre Ermittlungen einfließen zu lassen.

Die Angehörigen der Opfer legten dem Staatschef eine Liste mit acht Forderungen vor. Unter anderem verlangten sie die Gründung einer Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit nach dem Vorbild Guatemalas. Die UN-Einheit hilft dem mittelamerikanischen Land bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen. Präsident Peña Nieto versprach, den Vorschlag zu prüfen.

Den Angehörigen der Opfer reichten die Zusagen nicht aus. „Seit einem Jahr versuchen sie uns abzulenken, aber wir haben auf etwas Gutes bei diesem Treffen gehofft“, sagte María de Jesús Tlatempa, die Mutter eines der Verschwundenen. „Die Behörden wollen uns müde machen, aber wir geben nicht auf.“

Protestaktionen auf dem Campus der Universität

Die Studenten und Professoren in Ayotzinapa sind stramm links. Porträts von Che Guevara, Lenin und Emiliano Zapata schmücken die Gebäude der Uni. Bei Demonstrationen stehen die Studenten des Lehrerseminars stets in der ersten Reihe. Der Konflikt mit den Mächtigen gehört hier zum Programm. „Du kommst als Kind und gehst als Mann“, sagt ein Student über die Zeit in der Landuniversität.

„Unsere Jungs haben sich für soziale Belange eingesetzt, deshalb waren sie der Regierung ein Dorn im Auge“, sagt Cristina Bautista Salvador. Ihr Sohn Benjamin ist einer der 43 verschleppten Studenten. Seit einem Jahr leben auch die Eltern der Vermissten auf dem Campus, um bei den Kommilitonen ihrer Söhne zu sein und sich an den Protestaktionen zu beteiligen.

„Wir gehen ohne unsere Söhne nicht nach Hause“, sagt Estanislao Mendoza. Er baute im nahe gelegenen Dorf Apango Mais und Bohnen an, bis sein Sohn Miguel Ángel vor einem Jahr verschwand. Jetzt ist sein kleiner Hof verwaist, Mendoza hat sein Leben ganz der Suche nach seinem Sohn gewidmet. „Wo auch immer sie sind, wir werden sie finden“, sagt der Sprecher der Familien, Felipe de la Cruz.

Auf dem Basketballplatz der Uni haben die Eltern 43 Stühle aufgestellt - einen für jeden Vermissten. Margarita Zacarias richtet die Blumen und das Porträt auf dem Stuhl ihres Sohnes in der ersten Reihe. „Miguel Ángel war Friseur, aber er wollte Lehrer werden und die Kinder in den Bergen unterrichten“, sagt die Hausfrau.

In Ayotzinapa ist nichts mehr, wie es einmal war. Das Verschwinden der jungen Männer hat Träume zerstört und Familien zerrissen. „Auch unsere anderen Kinder leiden“, sagt Familienvater Mendoza. „Wir suchen die einen und verlassen dafür die anderen.“