Rom. Ein vollbesetztes Boot mit Flüchtlingen kenterte vor Sizilien. Ein in der Nähe befindliches Frachtschiff konnte nur 28 Menschen retten.

Bei dem Flüchtlingsdrama im Mittelmeer könnten noch mehr Menschen ums Leben gekommen sein als angenommen. „Wir waren 950 Menschen an Bord, auch 40 bis 50 Kinder und etwa 200 Frauen“, sagte ein aus Bangladesch stammender Überlebender laut Nachrichtenagentur Ansa der Staatsanwaltschaft Catania. Viele Menschen seien im Laderaum eingeschlossen gewesen. „Die Schmuggler haben die Türen geschlossen und verhindert, dass sie herauskommen“, erzählte der Mann, der in ein Krankenhaus in Sizilien gebracht worden war.

Nach Angaben der Küstenwache konnten nach dem Unglück am Sonntag 28 Menschen gerettet und 24 Leichen geborgen werden. Hunderte Flüchtlinge werden noch vermisst, Sucharbeiten blieben erfolglos.

Eine offizielle Bestätigung für die Zahl der Toten gab es zunächst nicht. Das möglicherweise bislang schwerste Flüchtlingsunglück im Mittelmeer löste in Europa Entsetzen aus.

De Maizière: "Deutschland darf Augen vor Tragödie nicht verschließen"

Papst Franziskus reagierte bestürzt auf das Unglück. Beim Mittagsgebet auf dem Petersplatz in Rom forderte er die internationale Gemeinschaft auf, „entschieden und rasch zu handeln, damit sich ähnliche Tragödien nicht wiederholen“. Die Opfer des jüngsten Unglücks seien „Männer und Frauen wie wir, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren, ausgehungert, verfolgt, verletzt, ausgebeutet, Opfer von Krieg, auf der Suche nach einem besseren Leben“, sagte das Kirchenoberhaupt.

Die Schiffskatastrophe löste auch in Deutschland Entsetzen aus. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte, Deutschland und die EU dürften nicht die Augen vor der andauernden Tragödie verschließen. Zugleich betonte er, kein Land könne die Flüchtlingsproblematik alleine lösen. Die EU-Innen- und Außenminister werden sich nach seinen Angaben in einer Dringlichkeitssitzung mit dem Unglück befassen.

Das Flüchtlingsunglück im Mittelmeer ließ Forderungen nach einem neuen Seenotrettungsprogramm laut werden. Vertreter von Grünen und Linkspartei warfen den EU-Staaten Versagen und Tatenlosigkeit vor. Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD) nannte es „ein Armutszeugnis für uns alle“, dass wieder so viele Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren haben.

Das Unglück ereignete sich den Angaben zufolge rund 70 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt. Möglicherweise brachten die Flüchtlinge den überfüllten Kutter zum Kentern, indem sie sich auf die Seite begaben, aus der sich der portugiesische Frachter näherte. Überlebende berichteten, insgesamt hätten sich rund 700 Menschen an Bord des 30 Meter langen Schiffs befunden. Die italienische Küstenwache und die Marine suchten südlich der Insel Lampedusa weiter nach Überlebenden.

Nach den Worten des Premierministers von Malta, Joseph Muscat, handelt es sich wohl um das bislang schwerste Flüchtlingsunglück im Mittelmeer, wie die „Times of Malta“ berichtete. Erst vor knapp einer Woche waren bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer nach UN-Angaben offenbar mehr als 400 Flüchtlinge aus Afrika ertrunken. Bei einem schweren Bootsunglück vor der Insel Lampedusa am 3. Oktober 2013 waren mehr als 360 Menschen ertrunken.

UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres hatte sich nach der Schiffskatastrophe der vergangenen Woche schockiert gezeigt und seine Forderung nach einer funktionierenden Seenotrettung bekräftigt. Italien hatte das Rettungsprogramm Mare Nostrum im Dezember 2014 eingestellt. Das EU-Programm Triton konzentriert sich auf Überwachung und Patrouillen.

Wiederaufnahme der Seenotrettungsoperation gefordert

Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Özoguz, sprach sich nach dem neuen Unglück im Mittelmeer für eine Neuauflage der Seenotrettung aus. Es sei zu befürchten, dass mit den wärmeren Temperaturen in den kommenden Wochen und Monaten noch mehr Schutzsuchende über das Meer kommen werden. „Wenn wir nichts unternehmen, wird das Mittelmeer noch für viel mehr Flüchtlinge zum Massengrab“, warnte die Staatsministerin in Berlin.

Auch der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, und die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, forderten die Wiederaufnahme der Seenotrettungsoperation Mare Nostrum. Dass man dieses Programm eingestellt habe, sei „katastrophal und absolut inhuman“, sagte Gysi dem Berliner „Tagesspiegel“. Die EU müsse sichere Wege für die Flüchtlinge schaffen und könne diese nicht weiterhin wie bisher „zynisch ihrem Schicksal“ überlassen„, sagte Göring-Eckardt der Zeitung.

Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), sagte “Spiegel Online„: “Es kann im Mittelmeer nicht mehr so weitergehen wie bisher." Spätestens die neue Tragödie zeige, dass die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten dringend handeln müssen. Die Verantwortung dürfe nicht länger hin und her geschoben werden. Weber forderte, die EU-Grenzschutzmission Frontex auszuweiten.

Im vergangenen Jahr hatte die Zahl der Bootsflüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gelangten, mit rund 219.000 laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk einen Höchststand erreicht. 3.500 Menschen kamen 2014 bei der gefährlichen Passage nach Europa ums Leben. (epd/dpa)