Hamburg. „Ich kann nicht mehr!“, ist ein Satz, den der Hamburger Kinderpsychologe Michael Schulte-Markwort immer öfter von seinen Patienten hört.

Sie haben keinen Appetit. Sie weinen schnell. Sie können sich nicht mehr konzentrieren. Sie fühlen sich erschöpft und schlafen trotzdem nicht ein. Seit fünf Jahren beobachtet der Psychologe Michael Schulte-Markwort bei Kindern und Jugendlichen jene Symptome, die das Krankheitsbild beschreiben, unter dem so viele Erwachsene leiden: Burn-out. Das Ausgebranntsein in Folge von Zeitdruck und Stress. Seit 1999 sind in Deutschland die Fehlzeiten aufgrund psychischer Probleme um etwa 80 Prozent gestiegen, sie sind mittlerweile verantwortlich für knapp zehn Prozent aller Krankschreibungen.

Michael Schulte-Markwort, 59, Ärztlicher Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und dem Altonaer Kinderkrankenhaus, hat jede Woche junge Patienten, die noch nicht berufstätig sind und trotzdem schon jetzt sagen: „Ich kann nicht mehr!“ Besonders häufig sind es Mädchen, die unter diesen Symptomen leiden, die im schlimmsten Fall zu einer Erschöpfungsdepression führen können.

In dieser Woche erschien sein neues Buch „Burnout-Kids: Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert“ (Pattloch Verlag, München 2015. 19,99 Euro). Die These: „Eine erschöpfte Gesellschaft produziert erschöpfte Kinder.“

Der Professor, der seit 27 Jahren mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, pflegt die leisen Töne. Nein, sagt er, um die junge Generation steht es nicht immer schlechter. Die Kinder und Jugendlichen seien keine „Tyrannen“, wie sie von anderen Autoren pädagogischer Bestseller absatzwirksam bezeichnet wurden. Sie seien auch nicht alle „digital dement“. Schulte-Markwort will die junge Generation nicht krankreden. 80 Prozent hätten keine Symptome eines Burn-out. „Und alle Kinder, die zu mir kommen, sind wunderbar, reflexiv, erreichbar, sozial kompetent.“ Trotzdem will er nicht schweigen über das, was er in der Praxis erlebt. „Ich möchte, dass das Problem der Erschöpfungsdepression nicht übersehen wird“, sagt er. Sind die Eltern schuld? Die Mütter und Väter, die wie Hubschrauber um ihren Nachwuchs kreisen? Immer achtsam, immer kontrollierend? So einfach ist es nicht. Die Eltern von heute, sagt er, seien so liebevoll und fürsorglich wie nie – und die Ursachen für das Phänomen so vielfältig wie die Teile eines Puzzles.

Einen wesentlichen Aspekt sieht er im „Prinzip der Ökonomisierung des Lebens“. Die Kinder lernen es von klein an. „Die Mütter erledigen in der Regel drei Jobs: Beruf, Haushalt, Kinderbetreuung. Die Kinder wachsen mit Müttern auf, die sich zerreißen.“ Kein Wunder, dass die Botschaft hängen bleibt: „Ich muss immer mehr schaffen!“ Außerhalb der Familie aber komme eine fürsorgliche Haltung kaum noch vor. „In unserer ökonomisierten Gesellschaft geht es immer um Wert und Gegenwert“, sagt Schulte-Markwort. Daneben steht die Fragilität der Welt. „Kinder bekommen durchaus mit, dass in der Ukraine Krieg herrscht und dass das nicht weit von uns weg ist“, sagt er. Und dass es ihnen Angst macht. Zumal die Nachrichten auf allen digitalen Kanälen in unser Bewusstsein fließen.

Die Digitalisierung. „Man kann sie nicht grundsätzlich verteufeln. Aber sie erzeugt ein neues Tempo.“ Alles muss schnell gehen, alles muss geteilt werden. Das Mittagessen, die Garderobe. Kamera rauf. Fotografieren. Ab ins Netz. Was sagen die anderen? Die Informationsflut muss man erst mal verarbeiten können. „In die Therapie kommen Jugendliche, mit denen ich darüber spreche, was sie nachts mit dem Handy machen sollen, damit das Brummen nicht stört.“ Stellen sie das vorm Schlafengehen nicht aus? „Nein, sie haben Angst, etwas zu verpassen.“

Aber Kinder und Jugendliche haben vor allem Angst, nicht gut genug zu sein, nicht genug zu leisten. „Die Schule ist der Kumulationspunkt für Burn-out.“ In der Sprechstunde des Psychologen sitzen Neunjährige, die sagen, ihre Zukunft sei verbaut, weil sie den Übergang aufs Gymnasium nicht schaffen. Er spricht mit Schulabgängern, die verzweifelt sind, weil ihr Abiturschnitt schlechter als 1,5 ist.

Der Hamburger Psychologe will eine Debatte anregen, die das System infrage stellt, das so viele Zukunftsängste produziert. Nein, die Kinder leiden nicht unter Lieblosigkeit. „Aber Eltern fragen sich nicht oft genug, was das Richtige für den Nachwuchs ist.“ Und vielleicht zeigen sie auch zu wenig Bereitschaft, eigene Wege zu akzeptieren. „In jedem steckt ja eine Entwicklung, wir müssen sie mittragen. Wir müssen aber auch offen dafür sein, dass ein Kind eine für uns unerwartete Abzweigung braucht.“