Mindestens vier Menschen kamen durch das Unglück in einer Aluminiumhütte ums Leben. Auch die Donau ist von den Chemikalien bedroht.

Budapest. Zuerst hörte sie ein Donnern. Dann sah sie eine Lawine aus rotem Schlamm auf ihr Haus zurollen. Sie schnappte sich das Kaninchen der Familie und "hatte nur noch Zeit, um aus dem Fenster zu springen und auf höher gelegenes Gelände zu rennen", berichtet Tunde Erdelyi aus der ungarischen Kleinstadt Devecser.

Ungarn erlebt derzeit eine seiner größten Umweltkatastrophen . Nach einem Unfall in einer Aluminiumhütte im Westen des Landes hat eine Flut aus giftigem Bauxitschlamm vier Menschen in den Tod gerissen. Mehrere Dörfer wurden verwüstet. Unter den Toten in der Gemeinde Kolontar waren zwei Kleinkinder, bestätigten die Behörden gestern. Mehr als 100 Menschen wurden zumeist mit Verätzungen in Krankenhäuser gebracht. Die Rettungskräfte suchen noch nach fünf Vermissten. In den Bezirken Veszprem, Vas und Györ wurde der Notstand ausgerufen.

Ein Auffangbecken der Fabrik MAL AG in der Stadt Ajka, etwa 160 Kilometer südwestlich von Budapest, war geborsten. Die Ursache für das Unglück ist noch unklar. Das Leck konnte bisher nicht gestopft werden. So konnten sich bis gestern etwa eine Million Kubikmeter einer giftigen roten Brühe über ein Gebiet von geschätzten 40 Quadratkilometern ergießen, wie Umweltstaatssekretär Zoltan Illes bestätigte.

In Kolontar und der benachbarten Kleinstadt Devecser stand der Schlamm meterhoch, als die Einsätzkräfte dort eintrafen. Er hatte Hunderte Häuser, Autos und Gärten unter sich begraben. Tote Fische aus dem Fluss Marcal wurden an die Ufer geschwemmt. Als Tunde Erdelyi in ihr Haus zurückkehren wollte, stand die Giftbrühe 1,50 Meter hoch. Rettungskräfte mussten die Tür zu ihrem Wohnzimmer mit einer Axt einschlagen, um die Flüssigkeit auslaufen zu lassen. Sie fanden ihre Katze, die sich auf den Dachboden gerettet hatte.

Die giftige Masse strömte in einen Bach und vermengte sich mit dem Hochwasser, das schon seit mehreren Tagen die Gegend heimsucht. Nachdem der Schlamm den Marcal-Fluss erreicht hat, könnten sich die Schadstoffe weiter in die Raab und die Donau ausbreiten. Mehrere Hundert Tonnen Gips sollten gestern in den Fluss Marcal gegossen werden, um das Gift zu binden.

Innenminister Pinter gab indes Entwarnung: "Die unmittelbare Gefahr ist vorbei", sagte er nach einer Sitzung des Katastrophenschutz-Komitees in Kolontar. "Die Arbeit konzentriert sich auf die Schadensaufnahme und -behebung." Die Einsatzkräfte seien dabei, den in dem beschädigten Speicher verbliebenen Bauxitschlamm abzusaugen.

Die Unternehmungsführung wies jede Verantwortung von sich. "Wir arbeiten unter Einhaltung aller Regeln und Vorschriften", erklärte der MAL-Geschäftsführer Zoltan Bakonyi. Vor dem roten Schlamm brauche "sich niemand zu fürchten", dieser sei "völlig ungefährlich", fügte er hinzu.

Umweltschutzorganisationen widersprachen dieser Darstellung heftig. "Der Rotschlamm lagert sich ab und verwüstet so landschaftliche Flächen vor Ort", sagte Zsolt Szegfalvi, Leiter des Greenpeace-Büros in Ungarn. Der Wind könne den getrockneten Schlamm bis zu 15 Kilometer weit wehen. Die ätzende laugen- und schwermetallhaltige Substanz könne Haut und Augen verletzen, stellte die ungarische Umweltorganisation Levegö Munkacsoport (Saubere Luft) fest. Dringt der Schlamm ins Grundwasser, dann gelangen Schwermetalle auch in Trinkwasser und Nutzpflanzen. Deren Genuss könne schwere Gesundheitsschäden verursachen.

Bauxit ist der wichtigste Rohstoff für die Aluminiumproduktion, der rote Schlamm ein Nebenprodukt bei der Erzeugung von Tonerde, aus der wiederum Aluminium gewonnen wird.

Das Unglück zeigt einmal mehr, wie problematisch die Umweltsituation in Mittel- und Osteuropa immer noch ist. Im Januar 2000 war beispielsweise im nordwestrumänischen Baia Mare, unweit der ungarischen Grenze, ein Reservoir mit zyanidhaltigem Klärschlamm aus einem Goldbergwerk geborsten. Das Gift hatte seinerzeit im ungarischen und serbischen Abschnitt des Flusses Theiß ein massives Fischsterben ausgelöst.