Der angeblich älteste Einwohner Tokios ist in Wirklichkeit seit 32 Jahren tot. Auch andere Greise sind plötzlich verschollen.

Tokio. Japan ist stolz darauf, dass seine Einwohner die weltweit höchste Lebenserwartung haben. Umso beunruhigender ist die Erkenntnis, dass Hunderte der angeblich ältesten Bürger längst gestorben sind oder seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurden. Das Rätsel um die verschwundenen Uralten beschäftigt die rapide alternde Gesellschaft; geht es dabei doch auch um habgierige Angehörige, überforderte Sozialarbeiter und alte Menschen, die einsam und allein durch alle Netze rutschen.

Die Geschichte begann Ende Juli. Da kam die Polizei darauf, dass Sogen Kato, der mit 111 Jahren als ältester Einwohner Tokios galt, in Wahrheit seit 32 Jahren tot war und als teilweise mumifizierter Leichnam in seiner Wohnung lag. Gegen seine Angehörigen wird jetzt ermittelt, ob sie ihn im Stich gelassen und seine Rente eingestrichen haben. Die Entdeckung veranlasste die Behörden landesweit, nach den über 100 Jahre alten Menschen in ihren eigenen Bezirken zu sehen. Was sie herausfanden, war erschreckend.

Die als älteste Frau Tokios geführte Fusa Furuya, geboren im Juli 1897, ist nicht aufzufinden. Ihre letzte Meldeadresse ist längst eine Brachfläche. Allein in der Stadt Kobe wird nach über 100 verschollenen Greisen gesucht, darunter eine Frau, die 125 wäre - wenn sie denn noch lebt. Ihr Fall und der dreier weiterer angeblich über 120 Jahre alter Bürger von Kobe dürften sich wohl schlicht durch Behördenschlamperei erklären lassen.

Der auf Hochbetagte spezialisierten Forschungsgruppe Gerontologie zufolge ist der älteste Mensch die 114 Jahre alte Französin Eugenie Blanchard, geboren am 1. Februar 1896. Sie führt die Rekordliste an, seit im Mai die Japanerin Kama Chinen eine Woche vor ihrem 115. Geburtstag starb.

Die Verwirrung über das Schicksal der Uralten trifft einen Nerv in Japan, wo neuerdings immer mehr Menschen ihre letzten Jahre allein verbringen. Nach dem letzten Bericht des Gesundheitsministeriums zum Tag der Achtung vor dem Alter, einem am 21. September begangenen Feiertag, zählte Japan 40.399 Menschen, die 100 Jahre oder älter sind. Nun muss die Statistik wohl korrigiert werden.

„Die Familien, die diesen älteren Menschen am nächsten stehen sollten, wissen nicht, wo sie sind, und haben sich in vielen Fällen nicht einmal die Mühe gemacht, die Polizei nach ihnen suchen zu lassen“, schrieb die Tageszeitung „Asahi“. „Es zeigt sich, dass es einsame Menschen gibt, die keine Familie haben, an die sie sich wenden können, und deren Bindungen an ihr Umfeld gekappt sind.“ Das Blatt wies auch auf einen finsteren Aspekt des Problems hin: Wenn Sterbefälle nicht gemeldet werden, läuft die Rente in der Regel einfach weiter. Das führt manche in Gelddingen bevollmächtigten Angehörigen in Versuchung, den Tod der alten Herrschaften für sich zu behalten.

Der Bevölkerungsanteil der Älteren ab 65 Jahre war voriges Jahr mit 22,7 Prozent so hoch wie nie zuvor. Zugleich fiel der Anteil der Jüngeren unter 14 Jahre auf 13,3 Prozent; das ist der niedrigste Wert unter 27 Ländern mit mehr als 40 Millionen Einwohnern. Japanische Frauen haben eine Lebenserwartung von 86 Jahren, die höchste der Welt, Männer von fast 80 Jahren. Die Alterung der Gesellschaft zieht zunehmend Probleme nach sich; Sozial- und Rentensysteme werden belastet und ein Arbeitskräftemangel erwartet. Wegen der geringen Einkommen, unsteter Beschäftigungsverhältnisse und schlechter Lebensumstände nehmen Verbrechen, Alkoholismus und Selbstmorde unter Senioren zu.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 90 Prozent der alten Eltern bei ihren Kindern. Heute sind es nicht einmal die Hälfte, wie der Psychologe Katsuya Inoue berichtet. Das sind zwar immer noch mehr als in vielen westlichen Ländern. Doch durch den raschen Wandel stehen viele ältere Menschen mit wenig sozialen Kontakten und einem sehr löchrigen Auffangnetz da. „Früher haben sich die Leute um ihre alten Eltern gekümmert. Doch mit den rapiden Veränderungen des Lebensstils scheint schon die Vorstellung, sich um die Eltern zu kümmern, zu schwinden“, sagt Inoue.

Das Rätsel der verschwundenen Uralten zeigt, wie leicht es ist, durch die Maschen zu fallen. Alle Hundertjährigen bekommen von den lokalen Behörden ein Schreiben und ein Geschenk, normalerweise per Post. Doch wie es ihnen geht, wird kaum einmal nachgeprüft. In weniger als der Hälfte der 47 Präfekturen Japans sieht jemand persönlich nach den Hochbetagten. Verärgert über die zunehmenden Berichte von Verschollenen hat Gesundheits- und Sozialminister Akira Nagatsuma die Behörden aufgefordert, sich besser zu kümmern.

„Viele Menschen haben Zweifel, ob der Staat ordentlich nachverfolgt, wo sich ältere Bürger aufhalten“, sagte er. „Es ist wichtig, dass die Behörden nach ihnen sehen, wo sie sind und wie es ihnen geht.“ Nagatsuma regte an, dass sich Beamte bei allen Bürgern über 110 Jahre von Angesicht zu Angesicht davon überzeugen, dass sie am Leben und wohlauf sind. Es dürften weniger als 100 sein.