Der Veranstalter sei von der Einhaltung der vorgeschriebenen Breite der Fluchtwege befreit worden. Zugleich sei das Gelände aber nur für 250 000 Menschen zugelassen gewesen.

Duisburg/Hannover. Das Gelände, auf dem die Loveparade stattfand, soll nur für 250.000 Menschen zugelassen gewesen sein, berichtete Spiegel Online. In einem Bericht vom Sonntagabend beruft sich der Internetdienst auf ein internes Verwaltungsdokument, das Mängel beim Sicherheitskonzept zeige. Das Schriftstück vom 21. Juli 2010 trage den Titel „Genehmigung einer vorübergehenden Nutzungsänderung“ und richte sich an die Berliner Lopavent GmbH, die Veranstalter der Love Parade. Ein Sachbearbeiter des Amtes für Baurecht und Bauberatung befreite darin die Organisatoren von der Vorschrift, die vorgeschriebenen Breiten der Fluchtwege einhalten zu müssen. Gleichzeitig hätten die Beamten auf Feuerwehrpläne verzichtet. Dafür begrenzten sie jedoch demnach die Zahl der Menschen, die sich gleichzeitig auf dem Veranstaltungsgelände aufhalten darf, auf maximal 250.000. Die Veranstalter des Festes hatten laut Spiegel Online noch wenige Stunden vor dem Unglück von etwa 1,4 Millionen erwarteten Teilnehmern gesprochen.

Die Bundespolizei hat nach Informationen von „Spiegel Online“ unterdessen einige Unterlagen zur Loveparade in Duisburg von ihren Computern gelöscht. Wie der Dienst am Sonntag weiter berichtete, geht es um Einsatzbefehle, Lagemeldungen und Karten. Die Daten seien nicht nur von den Computern der Beamten, sondern auch von deren E-Mail-Accounts gelöscht worden. „Da kam sehr schnell der ganz große Staubsauger“, zitierte das Online-Medium einen Beamten, der eine „Vertuschungsaktion“ vermutete.

Die Bundespolizei hat den Bericht jedoch als falsch zurückgewiesen. „Alle Einsatzunterlagen sind definitiv vorhanden und können bei Bedarf eingesehen werden“, sagte Bundespolizeisprecher Jörg Kunzendorf am Sonntagabend der Nachrichtenagentur dpa. Die Unterlagen würden auch für die angelaufenen Ermittlungen zu dem Unglück mit 19 Toten und mehr als 340 Verletzten bereitgestellt.

Die 19 Todesopfer der Loveparade sind inzwischen alle identifiziert. Die deutschen Opfer stammen aus den Städten Gelsenkirchen, Castrop-Rauxel, Bad Oeynhausen, Bielefeld, Mainz, Lünen, Hamm, Bremen, Steinfurt und Osnabrück. Bei den Getöteten handelt es sich nach Angaben der Duisburger Polizei um elf Frauen und acht Männer. Eine getötete Chinesin lebte in Düsseldorf, zwei junge Spanierinnen kamen aus Münster. Die anderen ausländischen Opfer stammen aus Australien, den Niederlanden, Italien und Bosnien-Herzegowina.

Bei dem Toten aus Osnabrück soll es sich um einen 21-Jährigen handeln, der in der Gemeinde Belm bei seinen Eltern lebte, berichtet die „Neue Osnabrücker Zeitung“. Die Eltern seien schon in der Nacht informiert worden. Ein Polizist und ein Notfallseelsorger hätten die Todesnachricht überbracht.

Der niederländische DJ Charly Lownoise hatte mit zwei Kollegen gerade für die Loveparade aufgelegt, als die Massenpanik ausbrach. Er berichtete hinterher im niederländischen Rundfunk, er habe das Drama „wie etwas völlig Surreales“ erlebt: „Ich sah Verletzte, Tote und heulende Menschen, die unter Schock standen. Vierzig Meter entfernt waren Leute am Tanzen, die gar nicht mitbekommen hatten, was passiert war. Himmel und Hölle lagen dicht beieinander.“ Sein Kollege DJ Mental Theo sagte, unter den Feiernden habe sich das Gerücht von einem Bombenanschlag verbreitet.

"Ich seh schon Tote": Duisburg wurde per Internet vor der Katastrophe gewarnt

Das Sicherheitskonzept der Loveparade war anscheinend von maximal 500.000 Menschen in ganz Duisburg ausgegangen. Dies sagte Panikforscher Michael Schreckenberg, der in die Planung der Loveparade einbezogen war. „Wir haben gewarnt, aber wir hätten vielleicht stärker warnen müssen", sagte er. Der Tunnel, an dessen Rampe die meisten Menschen starben, habe nur eine Kapazität von 20.000 Menschen pro Stunde. Bis zu 250.000 Raver sollten durch dieses Nadelöhr auf das Gelände geschleust werden – und wieder runter.

Er habe den Veranstaltern zuvor gesagt: „Wenn der Tunnel die Lösung ist, muss das bis ins Letzte durchgeplant werden.“ Er habe auch eine Videoüberwachung der Rampe angeraten, der Veranstalter habe dies aber abgelehnt, wollte kein Chaos unterschiedlicher Informationen: „Das war nicht gewollt.“

Auch hätte die Treppe an der Rampe, an der die meisten Toten gefunden wurden, besser abgeschirmt, „vielleicht sogar besser gesprengt werden sollen“. Schreckenberg sieht „Schuldige auf beiden Seiten“, also risikofreudige Kletterer unter den Besuchern und Verantwortliche für das Tunnelmanagement. Die Menschen im Tunnel hätten eine Ansprache gebraucht. „Die Menschen brauchen eine Perspektive, dass und wann es weitergeht. Dann bleiben sie auch ruhig“.

Die Katastrophe in Duisburg bedeutet auch das Aus für die Loveparade. „Ich bin furchtbar bestürzt und in tiefer Trauer“, sagte Veranstalter Rainer Schaller auf einer Pressekonferenz. Den Opfern nund Angehörigen sprach er sein aufrichtiges Mitgefühl aus. Die Veranstalter würden alles Erdenkliche unternehmen, um eine schnelle und lückenlose Aufklärung der Tragödie zu unterstützen. „Die Loveparade war immer eine friedliche Veranstltung und fröhliche Party“, sagte Schaller. Sie werde aber für immer von den tragischen Ereignissen in Duisburg überschattet sein und daher nicht mehr weiter fortgesetzt.

Die Staatsanwaltschaft hat nun offiziell die Ermittlungen aufgenommen. Zwei Strafanzeigen gingen bisher ein. „Die Staatsanwaltschaft Duisburg hat sofort ein Ermittlungsverfahren eingeleitet“, sagte Detlef von Schmeling vom Polizeipräsidium Duisburg. Die Toten seien nicht in dem Tunnel, sondern nördlich der Unterführung auf dem Rampengelände gefunden worden. Unklar blieb, ob am Tunnel installierte Kameras möglicherweise Bilder von dem Unglück aufgezeichnet haben.

Noch ist unklar, wieviele Besucher insgesamt bei der Loveparade waren. Die Zahl von 1,4 Millionen wollte von Schmeling zunächst nicht bestätigen. Als einzige feststehende Zahl nannte er 105.000 Menschen, die in der Zeit von 9 bis 14 Uhr per Bahn nach Duisburg kamen. Krisenstabsleiter Wolfgang Rabe sagte, der Veranstaltungsplatz auf dem alten Güterbahnhof könne grundsätzlich gut bis zu 300.000 Menschen aufnehmen und sei zum Zeitpunkt der Unglücks nicht vollständig gefüllt gewesen. Die Polizei habe vor dem Unglück eine zweite Zugangsrampe geöffnet, damit der Druck auf den ersten Zugang nachlassen könne. Erst das Unglück selbst „hat dazu geführt, dass der Zugang ganz abgeriegelt wurde“.

Teil des Sicherheitskonzeptes sei gewesen, den Zugang zum Tunnel zu regulieren, sagte von Schmeling. Das sei den ganzen Tag über durch die Polizei erfolgt. Der Zugang zum Gelände sei zu keinem Zeitpunkt gesperrt gewesen. Zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens hat es nach Informationen von Schmeling durchaus noch Bewegungsmöglichkeiten auf der Rampe gegeben. „Es liegen keine Erkenntnisse vor, nach denen es einen so großen Druck auf den Tunnel gegeben hat, dass es zu diesem Unglück kommen musste“, sagte von Schmeling. Die Zäune um das Gelände des alten Güterbahnhofs seien errichtet worden, um zu verhindern, dass Besucher die A59 oder Gleise betreten konnten. Zudem hätten die Zäune Rettungswege freigehalten

Die Deutsche Polizeigewerkschaft hat die Schuld für die Katastrophe bei der Duisburger Loveparade Stadt und Veranstaltern gegeben. Der Vorsitzende der Gewerkschaft, Rainer Wendt, sagte der „Bild“-Zeitung vom Montag: „Letztlich sind Stadt und Veranstalter für die Tragödie verantwortlich.“ Wendt sagte, er habe schon vor einem Jahr gewarnt, Duisburg sei kein geeigneter Ort für die Loveparade. „Die Stadt ist zu klein und eng für derartige Veranstaltungen.“ Der Polizeigewerkschafter sieht das Problem nicht beim Festival-Gelände selbst, sondern bei den Wegen dorthin. Eine Schuld der Polizei sieht Wendt nicht.

Um 17.34 Uhr hatte es geheißen, das Veranstaltungsgelände sei wegen Überfüllung geschlossen. Die gesamte Duisburger Innenstadt war von jungen Musikfans belagert, Tausende wollten noch zur Abschlusskundgebung der Loveparade, drängten von hinten in den rund 100 Meter langen und 16 Meter breiten Tunnel, obwohl vorne schon niemand mehr wegkam. Es war heiß, stickig, kaum Luft zum Atmen. Die ersten Menschen kippten um, gerieten unter die Füße der Masse. Nach Angaben von Stadtverwaltung und Polizei waren eine ganze Reihe von Fans auf die schmale Treppe geklettert, die aus dem Tunnel herausführte, und abgestürzt – andere hätten vergeblich versucht, die Sicherheitszäune um das abgeriegelte Gelände zu erklimmen.

Dröhnende Beats beim Kampf ums Überleben

Das Dröhnen der Beats von der nur wenige hundert Meter entfernten Hauptbühne dringt noch an die Ohren der Verzweifelten im Tunnel, während sie bereits um ihr Leben kämpfen. Es dauert, bis Polizei und Rettungskräfte die Lage in den Griff bekommen. Doch schließlich gibt es eine Rettungsgasse, und ein Rettungswagen nach dem anderen jagt mit Blaulicht und Martinshorn über die Karl-Lehr-Straße in Richtung Tunnel. Doch für viele kommt jede Hilfe zu spät.

Gegen 19.30 Uhr ist der Tunnel bis auf wenige Rettungswagen, einen Bus, Helfer und Verletzte beinahe leer. Überall liegen gebrauchte Sanitäterhandschuhe zwischen den zerbrochenen Plastikbechern. Am Boden klebt Blut. Einige Menschen sitzen am Tunnelende in gold-silberne Wärmefolien gewickelt auf dem Fußboden und werden von den Sanitätern versorgt. Der Schock steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Kleidung ist vom Straßenstaub schmutzig, die Gesichter sind dreck- und tränenverschmiert.

Wer ärztlich versorgt wurde, wartet im Bus darauf, von hier weggebracht zu werden. Am Bus warten auch zwei 17-Jährige, Dustin aus Erkrath und Thomas aus Köln, auf die Abfahrt. Sie kamen getrennt zur Loveparade nach Duisburg. „Wir kennen uns nur, weil wir übereinanderlagen“, sagt Thomas, dessen Jeanshose am rechten Bein komplett zerrissen ist. Um sein Knie trägt er einen Verband.

"Auf mir lagen noch zwei Menschen"

Beide sind staubbedeckt, und ihnen stehen die Tränen noch in den Augen. „Neben mir ist ein Mädchen gestorben“, sagt Dustin. Es sei einfach erdrückt worden. Ein weiteres Mädchen habe neben ihm gelegen. Es sei schon blau angelaufen gewesen. Mit Mund-zu-Mund-Beatmung habe er sie wiederbeleben können.

Dabei konnte sich Dustin lange selbst so gut wie nicht bewegen: „Auf mir lagen noch zwei Menschen.“ Teilweise hätten fünf bis sechs Personen übereinander gelegen. Als ihn schließlich Rettungssanitäter herauszogen, verlor er seine Schuhe. „Es war so eng, die sind steckengeblieben“, sagt Dustin. „Ich hatte schon mit dem Leben abgeschlossen“, berichtet der 17-Jährige. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch Luft bekomme.“

Thomas meint, Security und Polizei seien mit der Situation überfordert gewesen. „Es ist nicht das richtige Gelände, es ist einfach zu eng.“ Ob er noch einmal zur Loveparade gehen möchte, wisse er noch nicht. Für Dustin jedenfalls sei es die erste und letzte Loveparade gewesen: „Meiner Freundin werde ich das niemals erlauben und meinen Kindern später auch nicht.“

Alles fing so friedlich an

Dabei hatte alles so friedlich angefangen. Zum insgesamt 19. Tanzgroßereignis der Superlative kamen Hunderttausende von Technojüngern nach Duisburg. Schon zwei Stunden vor dem Startschuss zur dritten Loveparade im Ruhrgebiet nach den vielen in Berlin herrscht in der Duisburger Innenstadt der Ausnahmezustand. In breiten Strömen bahnen sich die Menschmassen auf den von Straßensperren vorgezeichneten Wegen ihren Weg zum Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs. Dort warteten die mit Musikboxen und Tänzern beladenen Großlastwagen, sogenannte Floats. Doch die Parade sollte nicht wie in den Vorjahren andernorts durch die Innenstadt gehen. In Duisburg wurde auf dem abgesperrten Schotterplatz im Kreis gefahren.

Auf dem Platz bekommen die meisten Besucher lange überhaupt nicht mit, was sich am Unterführungstunnel ereignet hat. Als sich später das Unglück herumspricht, setzt kurzfristig ein Run auf den Hauptbahnhof ein. Doch versucht die Bundespolizei, den Ansturm in den Griff zu bekommen. Dann aber muss auch der Hauptbahnhof wegen Überfüllung gesperrt werden. Auch die Straßen rund um die Station waren überfüllt. Erst nach Anbruch der Dunkelheit entspannt sich die Lage allmählich. (abendblatt.de)