Viel gut Abgehangenes in kleinen Räumen: Beim Festival „Infektion!“ prüft die Berliner Staatsoper die musikalische Moderne von Weill über Morton Feldman bis Salvatore Sciarrino auf ihre Haltbarkeit.

Berliner lieben Baustellen. Da die musikalische Moderne sämtlich den Baustellencharme des Unfertigen und Fragmenthaften verströmt, ist es also kein Wunder, dass die im Umbau befindliche Berliner Staatsoper mit dem Neue-Musik-Festival „Infektion!“ ihre Auslastung regelmäßig gut aufmöbeln kann. „Allet ausvakooft!“, darf man sich freuen. Bei solchem Zuspruch werden die Berliner Baustellen freilich nie fertig werden. Und auch bei der jüngsten Grubenbegehung wurde wieder kein Termin verkündet. Immerhin hat Intendant Jürgen Flimm schon mal bis 2017 seinen Vertrag verlängert.

Für „Macbeth“ von Salvatore Sciarrino, dessen Komponistenporträt diesmal im Zentrum steht, geht man sogar so weit, eine Baustelle zum Ort der Aufführung zu machen. Aber ist es wirklich eine? Beim „Ehemaligen Orchesterprobensaal“ im Intendanzgebäude hinter der Linden-Oper handelt es um einen der wenigen, nicht rückgebauten Räume des Komplexes. Kein Vergleich mit dem schwarzen Loch mit Lüster drüber, als welches sich das Stammhaus derzeit in seinem Inneren präsentiert. Oder mit dem demolierten Casino, in dem man sich vorher trifft – und wo man schon mal die eine oder andere Träne über das Dahingegangene vergießen kann.

Hausherr Jürgen Flimm, der wieder stärker ins Regiefach drängt (nächstes Jahr präsentiert er an der Mailänder Scala Rossinis „Otello“), inszeniert im ramponierten Salon zwischen korinthischen Säulen und einem vorgeklebten Fake-Kamin. So als wär’s eine lässige Fingerübung der Toskana-Fraktion. Kostbar changierende Kostüme für den Chor, Edelknitter für den Königsmörder: Es sieht aus wie in den 80er-Jahren. Carola Höhn mit Rokoko-Perücke wirkt als Lady Macbeth, als hätte sie zu viel Kirsten Dunst in „Marie-Antoinette“ geguckt. Otto Katzameier, der den Macbeth schon bei der Uraufführung 2002 sang, geistert im Dauerstrauchelgang zwischen den beiden Publikumstribünen umher wie ein schöner Zombie.

Schnappatmung bei Jürgen Flimm

Sciarrinos Zweistünder ist eine Brühwürfelversion von Shakespeares Drama. Auf zwei Stunden kondensiert, kann der dramatische Effekt nicht fehlgehen. In repetitiver Schnappatmung, voll aufstoßender Rhythmen, Spasmen und asthmatischer Melodieführung, bestätigt Sciarrino hier seinen Ruf als gemäßigter, wandlungsfähiger Einzelgänger. Auch sein kleiner „Lohengrin“, in Berlin aufgeführt mit der hochneurotisch exzellierenden Ursina Lardi, bleibt immer geschmackvoll und unaufdringlich.

Auch wohl entbehrlich. Der 67-jährige Sciarrino, dem in Berlin sogar mit einem Symposion gehuldigt wird, ist der geborene Gratwanderer zwischen Rauheit und Kulinarik. Er ist abstrakte These mit Sinn für Pragmatik und Portionsgrößen. Von ihm sind keine appetitüberfordernden Riesenpizzen zu erwarten. Alles bleibt adrettes, höchst goutierbares Tellergericht. Was den erfreulichen Nebeneffekt hat, sein Publikum nicht zu vergrätzen, sondern es bei der Hand zu nehmen und es auf die – jenseits aller Dogmen anpassungswillige – Privatmoderne seines Schöpfers einzuschwören.

Keine überfordernden Riesenpizzen

Hiermit hat man das Hauptproblem der Neuen Musik im Allgemeinen wie dieses Festivals im Besonderen bereits am Wickel. Ambitioniert prüft man die Halbklassiker der vergangenen 35 Jahre auf Haltbarkeit. Was im Schnitt gut gelingt, da hier – wie im Fall von Morton Feldmans „Neither“ in der Regie von Katie Mitchell – einmal nicht mit dem Liebhaberlöffelchen einer Off-Truppe geschöpft wird. Sondern mit der großen Kelle eines Staatsopernimperiums. Laura Aikin verleiht in „Neither“ den dreieinhalb Tönen dieser Beckett-Oper so ungeahnt lyrische Empfindsamkeit, dass man an Feldmans Aversion gegen das Genre Oper nachhaltig zweifeln könnte.

Am losen Ende der Saison

Man hat mit den halbschattigen Pflänzchen eben leichteres Spiel als mit einem Brocken wie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, das man hier dreist ins „neue Musiktheater“ eingemeindet. Vincent Boussard und sein Kostümbildner Christian Lacroix zitieren sich ausgiebig selber. Für Brechts Amoralismus- und Kapitalismuskritik fühlen sie sich verständlicherweise nicht zuständig. Gabriele Schnaut als Witwe Begbick verfügt mittlerweile über ein Tremolo, das locker eine Quinte umspannt. Wayne Marshall dirigiert zu umstandslos glatt, als dass man den Sprengstoff ahnen könnte, den Kurt Weill in seiner Oper versteckt.

Dass die Parteinahme für neue Oper hier doch eher Alibi ist, bei der sich die Dramaturgen einmal austoben können, zeigt sich auch daran, dass dieses Festival am falschen, losen Ende der Spielzeit stattfindet. Dann, wenn die großen Schlachten geschlagen sind und man die Fülle ambitionierter Premieren nicht mehr als Höhepunkt, sondern nur noch als Zugabe ausgeben kann. Oder eben als Minibaustellen, bei denen man Meisterwerke ohnehin kaum zu erwarten hat. Man lernt, mit welch himmelweiten Unterschieden moderne Komponisten an ihre Arbeit herangegangen sind. Und staunt, wie sehr sie einander in der Rückschau doch alle gleichen.

Bis 1. Juli