Vor 50 Jahren wurde der Grundstein für die Plattenbausiedlung Halle-Neustadt gelegt, bis heute ist „Ha-Neu“ Deutschlands größte Planstadt. Wo damals die Zukunft wohnte, droht heute ein graues Gestern.

Libidinöse Energien finden wie Wasser ihren Weg. Im Zweifel an die unmöglichsten Orte. Doch eines Tages war sich die Dichterin Brigitte Reimann nicht mehr so sicher. In einer Rede vor dem Nationalrat der DDR 1963 stellte sie sich und den Zuhörenden plötzlich die Frage „Kann man in Hoyerswerda küssen?“ Und präzisierte in einem Artikel in der „Lausitzer Rundschau“ vom 17. August des nämlichen Jahres, sie habe den „Mangel an Atmosphäre, an Intimität“ in der sozialistischen Planstadt ansprechen wollen.

„Jede Stadt, die natürlich gewachsen ist, hat ihren eigenen Duft, ihre eigene Farbe, und ihre Architektur besitzt einen unverwechselbaren Zauber.“ Doch wie steht’s mit dem Duft der Ungeschichtlichkeit? Dem Zauber der Planstadt? Lässt es sich küssen in der Stadt von Morgen? Pars pro toto treibt diese Frage die Bewohner und ihre Seismografen, die Literaten, nun schon seit einem halben Jahrhundert um: Es ist die Frage nach der Möglichkeit von Innigkeit im Konstruierten.

Halle-Neustadt, Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda

Halle-Neustadt war neben Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Schwedt die Vorzeigeplanstadt der DDR und ist bis heute die größte Planstadt, die je in Deutschland errichtet wurde. Die Saale markiert die Grenze zwischen dem über Jahrhunderte gewachsenen Halle, mit seinen zwei Burgen und den grauweiß leuchtenden Franckeschen Stiftungen, den Jugendstilvierteln und den prächtigen Kirchen, der Kunsthochschule. Hier entstehen Krimis und Gedichte, von hier stammen Schriftsteller wie Clemens Meyer oder Stephan Ludwig.

Auf der anderen Seite, verbunden durch die monströse Hochstraße, steht die am 17. September 1963 vom ZK der SED beschlossene und in den folgenden Jahren durchgeplante Chemiearbeiterstadt. Die Stadt der Moderne, die sich von Beginn an abarbeiten sollte an der gegenüberliegenden Altstadt, und deren Scheibenhochhäuser in Konkurrenz zu den Kirchtürmen jenseits der Saale hochgezogen wurden. In der Häuser gefertigt wurden, in deren Bäuchen wiederum bis zu 2.500 Menschen Platz hatten. In den kleinen Zellen des großen Ganzen.

Grundsteinlegung vor 50 Jahren

Am 15. Juli 1964 wurde der Grundstein von Halle-Neustadt gelegt, am 9. August 1965 bekamen die ersten fünfzig Mieter ihren Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt. Block 612 war bezugsfertig und stand am Anfang einer mysteriösen Magie der Nummernfolgen, der erst nach der Wende ein Ende gemacht wurde. WK I bis VIII, außerdem STUWZ, Delta 1 oder T2, Ypsilon- oder Punkthochhaus … eine neue geheime Sprache wurde da gesprochen. Da, wo sich mit einem Mal mitschreiben ließ am Neubau. Und da, wo die Bürger erwarteten, dass die Literaten sie „in ihre Stadt verliebt machen!“

Während Brigitte Reimann Mitte der Sechzigerjahre tief in der sozialistischen Produktion steckte und – dem Literaturprogramm des Bitterfelder Wegs gemäß – der Kussfrequenz der Werktätigen im Arbeitskollektiv „Schwarze Pumpe“ nachging, begaben sich Kollegen wie der Dichter-Reporter Jan Koplowitz oder Werner Bräunig auf die Baustelle der Neustadt. In kleine Wohnungen, in Bauwagen, alles in Gummistiefeln, versteht sich, denn die Stadt im Wandel machte lange dreckige Füße.

Bis 1970 war die Fertigstellung der Stadt geplant, 1990 wurde der letzte Stein gesetzt, und heute, nachdem die Einwohnerzahl von etwas über 93.000 auf etwas über 45.000 geschrumpft ist, wird zurückgebaut. Shrinking City. Der Baustelle ist kein Ende. Koplowitz, dessen Texte heute kaum mehr zu ertragen sind vor launigen Doppelsinnigkeiten und ideologischer Energie, schreibt 1966 seine Ode „Die Zukunft läuft in Gummistiefeln“:

„Ja, das ist leicht, beschwingt in / Dederon / Auf Dachterrassen tanzend sich / beflügeln, / um Mund an Mund – manch Dichter / schreibt davon – / den zärtlichsten der Schwüre zu besiegeln.“

Lauschig wohnt man woanders

Im Plastekleid auf dem Hochhausdach – so einfach wird es nicht gewesen sein. Ebenso wie Brigitte Reimann in Hoyerswerda macht sich der Hallenser Autor Hans-Jürgen Steinmann Sorgen um die eventuell fehlenden Intimitäten in der Stadt, und die Befremdung scheint anzuhalten. 1979 noch schreibt er: „Ungewohnt ist uns manches hier, neuartig, fremd. Wir suchen die vertrauten Bilder der Städte, in denen wir bislang zu Hause waren. Schmale, dämmrige Gassen – hier gibt es sie nicht. Lauschige Winkel, Parkbänke unter hundertjährigen Wipfeln – wo werden sich die Liebenden der neuen Stadt treffen?“

Oberhalb des Radars? Auf dem Sonnendeck? Probieren wir es doch noch mal mit der Dachterrasse. Der Fahrstuhl in den 18. Stock fährt gefühlte zwei Ewigkeiten. Und wenn das Stockwerkglöckchen zur Ordnung ruft, dauert es charmanterweise eine dritte, bevor sich die Tür öffnet. Hier, ja, hier ließe sich küssen, gar knutschen, ohne Frage. Achtzehn Stockwerke misst das letzte der fünf Scheibenhochhäuser, das noch belebt ist, diese Scheibe, die sich dem Blick entgegenstellt und ihn doch anzieht.

Die Schönheit der monotonen Struktur und zugleich der Gedanke, niemals in diesem hellhörigen Monstrum wohnen zu mögen. Die architektonischen Vorbilder stammen aus Rotterdam und Stockholm. Aber hier in Halle wirkt die Moderne irgendwie anders. Vielleicht zu vertraut.

Eierschecke mit Plattenbaublick

In Scheibe 013, sitzt die Agentur für Arbeit, oder Jobcenter, oder wie das jetzt heißt, das Penthouse ist seit siebzehn Jahren ein Reisebüro plus Café. „Skyline“, so der ehrliche Name. Neben den Kalifornienplakaten und dem Ferienparadiesaufsteller brummt eine Kühlvitrine kleine Stückchen von Eierschecke, Käsekuchen und gedeckter Apfeltorte auf Temperatur. Eis gibt’s auch, knallorangenes Mangosorbet und dezentere Vanille, und wer es sich richtig gut gehen lassen will, der bestellt einen Eiskaffee auf die Dachterrasse.

Und wer sich einen schicken Eindruck von der Platte heute machen will, ihn bestenfalls noch journalistisch oder künstlerisch verwerten, der kommt hier herauf, zum überwältigend großen Blick in den Sommer. Am Horizont die Kühltürme der Chemiestandorte, die mit ihren rauchenden Schornsteinen aussehen, als würden sie die Wolken produzieren, die langsam rundum ihre Gestalt wandeln. Die Taubenschwärme lassen sich in den Wind fallen. Und der steht niemals still hier oben. Die Sonnenschutzmarkise wird nur herausgefahren, wenn sich das Windrädchen wenig bewegt. Also selten.

Im Blick über die Brüstung erscheint ein leeres Parkdeck, in das plötzlich Bewegung kommt. Eine Frau, dunkler Kurzhaarschnitt, weiße Bluse, schreitet die Parkbuchten ab und deklamiert bis in 60 Meter Höhe hörbar die Nummern der Stellplätze. Ein surrealer Moment, der Voyeur auf dem Dach, die im Zahlenspiel Versunkene in der Tiefe, doch die Auflösung folgt nach zwei faszinierenden Minuten – eine Kamera kommt ins Blickfeld, was sonst.

Neuerdings beliebt bei Filmdrehs

Die zerbröckelnde leere Stadt wird gerne bespielt, als Kulisse für Geschichten von Tristesse, Endzeit, Sozialdrama. Wer in Halle dreht, der tut dies überproportional oft in Neustadt. Als etwa das internationale Festival „Theater der Welt“ 2008 zu Gast war, zog es sie alle über die Magistrale in die Zukunft von gestern, ob italienischer Videokünstler oder New Yorker Performer.

Der just angelaufene Dokumentarfilm „Im Dreieck“ von Uwe Mann porträtiert auf herrliche Weise den charismatischen, in die Jahre gekommenen Bauleiter der ersten Stunde, Heiner Hinrichs. Und hält dabei eher auf dessen vitale Verwicklungen mit den Mädels als auf seine ebenfalls in die Jahre gekommene Baukunst. Wobei gerade Hinrichs, der belesene Charmeur und dabei besessene Konstrukteur, die Neustadt stets prächtig zu nutzen wusste für seine privaten Glücke.

Die Frauen und das Bauen, seine Leidenschaften sind sogar Literatur geworden, 1973 in dem satirischen Drama „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt“ von Rainer Kirsch, in der „Taktstraße“ von Jan Koplowitz und der Großreportage „Städte machen Leute“ von Koplowitz, Bräunig, Steinmann und anderen, beides 1969.

„Städte machen Leute“

Selbst die legendäre Brigadeleiterfigur Hannes Balla aus der DEFA-Verfilmung „Spur der Steine“ soll sich an den Methoden und dem Charakter Heiner Hinrichs bemessen haben. Der Bau von Halle-Neustadt war für Hinrichs, wie er selbst sagt, „Revolution“. Und da in einer Revolution die Ereignisse des Tages in der Nacht schon wieder überholt sind und die der Nacht am Tag nicht mehr zählen, die Emotionen also auch mutmaßlich leichter kentern, sollte das Aroma der Nachbarin oder Mitarbeiterin schneller zu erhaschen gewesen sein als in konsolidierten Zeiten.

Heute. Vielleicht ist es heute weniger die Frage, wo man in Halle-Neustadt küssen kann als vielmehr: wen. In Städten, in denen die Zeit die Baumaterialien holt und die Bewohner vertreibt, kann es lang dauern bis zum ersten Kuss.

Davon erzählt der junge Berliner Schriftsteller Stefan Ferdinand Etgeton in seiner Kurzgeschichte „stechen oder wie ich einmal nach halle zog“, mit der er den diesjährigen Literaturwettbewerb des Mitteldeutschen Rundfunks gewann. Ein Jungakademiker kommt aus dem Rheinland in den Osten und verzagt an der Apathie seiner wenigen Mitmenschen in den Fernheizungszellen.

Fernwärme für Ha-Neu

„ich kann an türen klopfen und begrüßungsmuffins gebacken haben, aber niemand öffnet und dann versuche ich immer leute und männer und frauen und kinder im aufzug anzusprechen, aber die verkriechen sich dann in den klebrigen ritzen der zeit und verstummen so apathisch und der müllmann ist noch der erstaunlichste, weil er nur die mülltonnen leert und nicht gleich die ganze stadt einpackt.“

Aus der Verzweiflung rettet ihn eine Neustadt-Schönheit, die er an einer Ampel kennenlernt. „ich hab die folgenden wochen auch verstanden, wie man in halle-neustadt wohnen kann, weil man ein mensch ist und die alles können“. Und hier ist sie wieder, die Platte als Kulisse, die überall sein könnte, ob Hanoi oder Ha-Neu. Etgeton jedenfalls hat nie in Halle-Neustadt gelebt. Weshalb auch. Wer heute über die Hochstraße fährt und in die inspirierende Monochromie abtaucht, hat die Geschichten zwischen den Wohnblöcken meist schon im Kopf. Nirgendwo ist es bunter als im Grau.