19-Jähriger aus Neu Wulmstorf wegen Totschlags verurteilt – im Prozess blieben viele Fragen offen. „Wir werden nie erfahren, was Aaya in den letzten Stunden erlebt hat“, sagte die Staatsanwältin.

Stade. Um 13.35 Uhr verkündet Richter Berend Appelkamp am Mittwoch im Saal 109 des Stader Landgerichts sein Urteil: Ahmed A. ist schuldig, seine Schwester Aaya am 20. März 2014 getötet zu haben, er wird zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt. „Keine Zweifel“ hatte die Kammer an der Schuld des 19-jährigen Angeklagten. Dabei wissen weder die Richter noch die Staatsanwältin, warum Ahmed A. die Tat begangen haben soll, wie sie genau ablief, wo sie sich abgespielt hat – und sie wissen auch nicht, ob sie wirklich den Täter vor sich haben.

„Wir werden nie erfahren, was Aaya in den letzten Stunden erlebt hat“, sagte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. „Aber ihr Bruder trägt dafür die Verantwortung“, fügte sie hinzu. Faser- und DNA-Spuren am Müllsack, in dem die Leiche lag, müssen für eine Verurteilung reichen. Ahmed blickt kurz auf und sieht dann wieder nach unten. Ein Urteil in einem aufsehenerregenden Fall von Totschlag ist gesprochen. Und nichts ist klar.

Seitdem die Leiche des elfjährigen Mädchens am 22. März 2014 im Schuppen auf dem Grundstück der Familie in Neu Wulmstorf (Landkreis Harburg) gefunden wurde, suchten Polizisten, die Staatsanwältin, Angehörige, Freunde, Nachbarn nach einem Motiv. Warum musste Aaya sterben? Wer hat ihren Oberkörper mit „massiver Gewalteinwirkung“ gequetscht, wer ihren Hals gewürgt, bis sie nach etwa zwei Minuten erstickt war, wie aus dem Obduktionsbericht hervorgeht? Wer hat die Leiche dann in einen Müllsack gesteckt, im Schuppen abgelegt, die Tür verschlossen und den Schlüssel weggeworfen? Die Antworten darauf hat das Gericht nicht finden können; doch die Zeugen, die gehört wurden, konnten ein Licht auf das Familienleben und das Umfeld werfen, in dem sich Ahmed bewegte.

Ahmed, der liebende Bruder. Der alles für seine drei Schwestern getan hat und tun würde. Der durchdrehen würde, wenn ihnen jemand etwas antun würde. So haben es Zeugen beschrieben. Vater Ibrahim, 47, ist Luftfahrtingenieur und stammt aus dem Gazastreifen, seine Frau arbeitet als Gynäkologin. Zwei Akademiker, die aus ärmlichen Verhältnissen stammen und es in Deutschland zu angesehenen Berufen gebracht haben – ein Musterbeispiel an gelungener Integration. Einerseits.

Denn die Zeugen berichten auch vom rigiden Innenleben der A.’s, von streng muslimischen Regeln, die Ahmeds Schwestern Kopftuch und lange Röcke aufzwingen. Von Schlägen, die kamen, wenn schlechte Noten aus der Schule mitgebracht wurden. Die Schwestern hatten blaue Flecken, berichtete eine Mitschülerin. Es gibt viele Verbote. Es gibt falsche Musik, falsche Freunde, ein falsches Leben. Ahmed hat eine Freundin, Nastja, die er seinen Eltern verheimlicht. Eine seiner Schwestern verpetzt das Geheimnis, und die Eltern sagen: Du musst dich entscheiden. Entweder die Familie – oder die Andersgläubige. Er verlobt sich mit ihr.

Die mit der Familie bekannte Johanna G. sagt im Gericht, Ahmed habe einen regelrechten Hass auf seine Eltern, insbesondere was die Religion betraf. Die Schwester habe er über alles geliebt und wollte nicht, dass sie nach den strengen muslimischen Regeln erzogen wird. Einmal soll sein Vater dem Sohn direkt mit der Faust ins Gesicht geschlagen haben. Ahmeds Vergehen: Er hatte sich in einem Fitnessstudio angemeldet. Auf seiner Facebook-Seite posiert der Jugendliche mit seinen Muskeln, schwärmt für Hip-Hop, postet Texte von Gangsta-Rappern.

Der psychiatrische Sachverständige Jürgen Schmitz hat Ahmed dreimal untersucht. Er hat einen jungen Mann getroffen, der Cannabis konsumiert, sich für Frauen und Sex interessiert und etwas unreif sei. Ahmed sagte einmal: „Ich will feiern, was mit Frauen zu tun haben, in Discos gehen.“ Das verträgt sich nicht mit den Vorstellungen einer islamischen Lebensführung, wie sie der Vater hat. Der schickt seinen Sohn auf eine König Faisal Akademie, wo er online Kurse besuchen muss. „Diese Doppelbelastung entfernte ihn von seinen Freunden und Bekannten“, sagt der Gutachter. Das Jugendamt war eingeschaltet, bis vier Wochen vor der Tat lebt Ahmed in einer anderen Familie.

Als Aaya gefunden wird, schießt sich die Polizei schnell auf ihn als Täter ein. Ahmed wird befragt, ohne dass er über seine Rechte aufgeklärt wird. Sein Anwalt Robert Funk dringt erst sechs Stunden nach dem ersten Anruf zu ihm durch. Er und seine Kollegin Annette Voges monieren die unfachmännische Arbeit der Polizei. Die Beamten geben auch im Zeugenstand keine gute Figur ab, Richter Appelkamp gibt dem Antrag der Verteidigung schließlich statt, dass die Aussagen des Angeklagten im Prozess nicht verwertet werden dürfen.

Ahmeds Verteidiger säen Zweifel, thematisieren das verschlossene Familienleben. Im Plädoyer sagt Voges, dass man nicht so weit suchen müsse, wenn man einen Täter finden wolle. Der Schlüssel liege „in der Familie“. „Wenn man die Charaktere von Vater und Sohn nebeneinander stellt, fragt man sich, warum der Sohn die Schwester getötet haben soll.“ Der Vater geriet nie in den Fokus der Ermittlungen.

Wenn sein Sohn verurteilt würde, würde er am deutschen Rechtsstaat zweifeln, sagt der Vater am Montag nach der Verhandlung. In den Pausen redet er mit seinem Sohn, sie wirken vertraut, zugewandt, als sei nichts passiert. Einmal turnte die kleine Schwester auf dem Schoß von Ahmed herum. Der Vater sagt, der wahre Täter laufe frei herum, die Familie habe damit nichts zu tun. Ahmed A. hat das letzte Wort vor der Urteilsverkündigung. Er sagt: „Ich war es nicht.“