Die Studentin wollte schlichten und bezahlte dafür mit ihrem Leben. Zur Mahnwache kamen 1500 Menschen

Offenbach. Am letzten Abend, den Tugçe A. gesund erlebte, wollte sie einen Geburtstag feiern, den ihrer Freundin Alma. Die Mädels hatten sich hübsch gemacht, waren ausgelassen vom kleinen Gelnhausen aus in die große Stadt gefahren. Doch dann, nach einem herrlichen Abend, trafen die jungen Frauen in den frühen Morgenstunden eine fatale Entscheidung: Statt ins Schnellrestaurant zu Hause zu gehen, machten sie im McDonald’s von Offenbach halt. Dort geht es um diese Zeit am Wochenende stets hoch her, viele Clubgänger treffen sich in den frühen Morgenstunden, viele sind betrunken. Frankfurter und Offenbacher wissen, wie explosiv die Stimmung sein kann. Während einer Mahnwache für Tugçe kritisierte ein Offenbacher, dass es dort regelmäßig „Stress“ gebe. Doch die Mädchen aus dem beschaulichen Gelnhausen ahnten das offenbar nicht.

Eine Stunde später wurde Tugçe von einem 18-Jährigen ins Koma geprügelt. Am letzten Tag, den Tugçe A. beatmet wird, hat sie selbst Geburtstag. Es war die Entscheidung ihrer Mutter, am Freitag die Maschinen abzuschalten, die sie seit der Prügelattacke vom 15. November am Leben hielten. Dafür versammeln sich am Abend etwa 1500 Menschen vor dem Offenbacher Sana-Klinikum, im Gedenken an die junge Frau, ihre Zivilcourage und ihren Mut. Sie haben sich über Facebook verabredet, Mitfahrgelegenheiten im Internet organisiert und Anreisepläne zum Krankenhaus veröffentlicht. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) will Tugçe für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen.

Offiziell ist Tugçe da schon seit zwei Tagen tot: Am Mittwoch haben die Ärzte den Hirntod erklärt. Auch auf ihrer Facebook-Seite wird der 26. November als Sterbedatum angegeben. Tugçes Mutter habe aber darum gebeten, bis zu ihrem Geburtstag abzuwarten mit dem letzten, alles beendenden Schritt, sagte ein Vertrauter der Familie.

Die junge Frau soll vorgehabt haben, sich an ihrem 23. Geburtstag zu verloben, behauptet ein Bekannter. Ihr Freund hat die letzten Tage in Tugçes Leben am Krankenbett verbracht. Der Student Ali Can kannte Tugçe A. seit dem ersten Semester. Deutsch und Ethik hat sie studiert in Gießen, sie war von Gelnhausen aus dorthin gependelt und wollte Lehrerin werden. Auch Ali Can hat sie lebensfroh und optimistisch erlebt, und vor allem engagiert: „Sie war immer der Auffassung, dass man die Welt verändern kann.“ Eine Freundin bestätigt: „Tugçe hat immer den Mund aufgemacht.“

Geboren wurde Tugçe in Deutschland. Dass Tugçe A. wie der Blitz aufsprang und half, als zwei junge Mädchen bei McDonald’s um Hilfe riefen, lag offenbar in ihrer Natur. Schon als kleines Kind, erzählten Verwandte dem „Stern“, habe sie in ein brennendes Haus rennen wollen, um ihre Mäuse zu retten. Je älter sie wurde, desto engagierter und politischer wurde die Frau mit den großen, runden Augen.

„Tugçe hat bald eine eigene Partei“, heißt es in einem Eintrag auf ihrer Facebook-Seite. Tugçe war resolut, hatte eine eigene Meinung und offenkundig einen starken Willen. Sichtlich empört rief sie mehrfach auf ihrer Facebook-Seite zur Teilnahme an einer Demonstration an der Frankfurter Hauptwache auf – aus Solidarität für die Demonstranten in Istanbul gegen die Regierung Erdogan.

Im Mai gedachte sie mit einem Bild von Galgen, an denen Rosen hingen, des 1972 gehängten Revolutionsführers Deniz Gezmis, eines Kämpfers für den Kemalismus. Diese politische Richtung steht für eine Annäherung an den Westen, ein souveränes Volk, weniger Macht der politischen Kaste und die Minimierung des islamischen Einflusses. Im März veröffentlichte Tugçe eine Zeichnung, die Berkin Elvan als Engel zeigte. „Berkin Elvan ist im Himmel. Schande über uns“, schrieb sie dazu. Der 15-Jährige war im Sommer 2013 bei den Protesten in der Türkei verletzt worden. Er starb im März – nach neunmonatigem Koma. Wie Tugçe jetzt selbst.

Der 18-jährige mutmaßliche Täter Sanel M. sitzt derweil in der Wiesbadener Justizvollzugsanstalt. Der 1996 in Sjenica, einer kleinen Stadt am Rande Serbiens, geborene Arbeitslose soll eine Einzelzelle haben, auch haben die Wärter wohl ein besonderes Auge auf ihn, die Emotionen schwappen hoch. Für kurze Zeit saß er schon einmal im Jugendarrest, er soll jemandem den Kiefer gebrochen haben. Mehr als ein Dutzend weiterer Delikte sollen in seiner Akte stehen,.

Tugçes Eltern haben über ihn noch kein schlechtes Wort verloren. Sie wollen nicht, dass noch mehr Hass entsteht. Aber eines macht ihren Vater besonders fassungslos: dass sich die beiden Mädchen noch nicht gemeldet haben, denen Tugçe auf der Toilette des McDonald’s beigestanden hatte.