Ermittler untersuchen 174 Todesfälle in Delmenhorst. Krankenpfleger tötet über Jahre

Delmenhorst. Als ihre Mutter auf der Intensivstation des Klinikums in Delmenhorst stirbt, hat Kathrin Lohmann gleich ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. „Es passte alles einfach nicht zusammen“, sagt die 36-jährige Tochter heute. Ihrer Mutter ging es schon deutlich besser, sie sollte auf eine normale Station verlegt werden – und dann war sie plötzlich tot.

Kathrin Lohmann ist damals vor Trauer wie gelähmt. Ihrem Verdacht geht sie nicht weiter nach. Erst als sie Jahre später in einer Tageszeitung von einem Prozess gegen einen Krankenpfleger liest, der auf genau dieser Station einen Patienten umbringen wollte, wird sie mehr als hellhörig. Sie erstattet Anzeige – und bringt damit einen Fall ins Rollen, der sich inzwischen als eine der größten Mordserien in Deutschland erweisen könnte.

Eine Sonderkommission der Polizei und die Staatsanwaltschaft untersuchen zurzeit allein in Delmenhorst den Tod von 174 Patienten, die im Zeitraum von 2003 bis 2005 während der Schichten des Krankenpflegers starben. Doch wieso wird erst jetzt ermittelt? Und wieso fielen seine Taten erst so spät auf? „Da haben offenbar viele die Augen zugemacht“, meint Lohmann. Versäumnisse sieht sie aber auch bei der Staatsanwaltschaft.

Seit September muss sich der frühere Krankenpfleger wegen dreifachen Mordes und zweifachen Mordversuchs vor dem Landgericht Oldenburg verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 37-Jährigen vor, Patienten eine Überdosis eines Herzmedikaments gespritzt zu haben, um sie danach wiederbeleben zu können. Später soll sein Motiv auch nur noch pure Langeweile gewesen sein. In einem ersten Prozess hatten die Richter ihn im Jahr 2008 wegen Mordversuchs bereits zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Unter den Opfern im aktuellen Prozess befindet sich auch die Mutter von Kathrin Lohmann. An jedem Verhandlungstag hört sich die 36-Jährige von der Nebenklagebank aus jedes Detail an. Für sie ist es häufig kaum zu ertragen – vor allem weil den Angeklagten das ganze Geschehen nicht zu berühren scheint. Gleichgültig wirkt er.

Im Gefängnis war das anders: Dort soll er sich vor anderen Häftlingen mit seinen Taten sogar gebrüstet haben. Bei 50 Morden will er aufgehört haben überhaupt noch zu zählen. Das berichteten Zeugen vor Gericht. Dass die Oldenburger Staatsanwaltschaft das erst jetzt vollständig aufklären will, kann Lohmann nicht nachvollziehen: „Das hätten sie damals auch schon machen können. Die Beweise lagen vor.“

Die Oldenburger Staatsanwaltschaft will die damalige Entscheidung nun intern überprüfen. „Die zuständigen Kollegen haben offensichtlich die Beweislage anders eingeschätzt“, sagt Behördensprecherin Frauke Wilken: „Diese war damals aber eine andere. Es gibt schon eine Steigerung der Erkenntnisse.“ Außer am Klinikum Delmenhorst wollen die Ermittler auch Todesfälle an den vorherigen Arbeitsstätten des Krankenpflegers in Oldenburg und Wilhelmshaven überprüfen sowie bei den Rettungssanitätern, für die er in seiner Freizeit aktiv war.

Ob alle Morde nach so langer Zeit noch nachweisbar sind, ist fraglich. Dass es viele sein können, dafür sprechen die Fakten: Die Todesrate auf der Intensivstation in Delmenhorst verdoppelte sich im Zeitraum von 2003 bis 2005 beinahe. Der Verbrauch des Herzmedikaments stieg in der Zeit sprunghaft. Doch wieso fiel das der Klinikleitung nicht auf?

„Niemand traut einem Kollegen zu, dass er Patienten nicht helfen, sondern töten will“, sagt Erich Joester, Rechtsanwalt der Klinik. Die erhöhte Todesrate habe man unter anderem auf die neue Tumorabteilung zurückgeführt.

Schon den Kollegen am Klinikum in Oldenburg war der Pfleger aufgefallen

Der Psychiatrie-Professor Karl H. Beine hat seit den 1970er-Jahren insgesamt 36 Mordserien an Krankenhäusern weltweit untersucht und dabei ähnliche Muster festgestellt. „Das Krankenhaus ist stets bemüht, den Schaden fürs eigene Haus kleinzuhalten, indem es die Augen zumacht“, sagt der Lehrstuhlinhaber an der Privaten Universität Witten/Herdecke. Dazu gehört auch, dass auffällige Kollegen weggelobt werden.

Dass etwas mit dem Krankenpfleger nicht stimmt, war auch schon den Kollegen am Klinikum in Oldenburg aufgefallen. Die Konsequenzen: Erst versetzte man ihn, dann forderte man ihn zur Kündigung auf und stellte ein gutes Arbeitszeugnis aus. Nebenklage-Anwältin Gaby Lübben spricht deshalb von einer Mitverantwortung. „Sie haben das Problem abgeschoben.“

Das Klinikum wollte sich zu den Vorwürfen bisher nicht äußern. Ein Gutachter untersucht zurzeit die Todesfälle während der Dienstzeit des Pflegers. Anfang nächster Woche ist eine Pressekonferenz geplant.